Es gehört zu den Auffälligkeiten der Prosa von Michael Lentz, dass er die Sprachräume, die er ausschreitet, bevor er sie manchmal in schwindelerregende Höhen treibt, zunächst auslotet. Da werden akribisch Bodenproben genommen, werden Bedeutungsablagerungen untersucht, wird sehr genau analysiert, was da als Bodensatz vorhanden ist. Aber trotz der Ernsthaftigkeit, mit der sich der Autor dieser Aufgabe annimmt, gelingt es ihm auch, das Absurde an bestimmten Zuständen und Daseinsweise herauszuarbeiten.
In der Erzählung Weltgeschichte, aus dem Erzählungsband Muttersterben (2002), lässt er den Ich-Erzähler nach der Weltgeschichte in Bergen von Akten suchen. Verzweifelt arbeitet er sich durch die in den Akten aufgehobenen Menschengeschichten, ohne
eschichten, ohne allerdings darin die Weltgeschichte zu finden. Aber Weltgeschichte war es, was er machen wollte, nur läuft diese Arbeit der Weltveränderung wie die des Weltverbesserers in Thomas Bernhards gleichnamigem Stück darauf hinaus, die Welt abzuschaffen.Den Zwischenraum zwischen Absenz und Präsenz durchmisst Michael Lentz auch in seinem letzten Roman Liebeserklärung. Es ist ein Raum voller Fallen und Schwellen, durchzogen von Grenzen, die manchmal überschritten und dann wieder geachtet werden. Auf der "Geschlechterkampftrümmerwiese", über der sich ein "Liebesgewitter" entladen hat, bleibt ein Ich zurück, dass sich fragt, warum sein Lieben permanent scheitert. Bei dem Versuch, aus einer Liebe zu verschwinden, weil er in einer neuen ankommen will, bleibt er buchstäblich auf der Strecke. Eine solche Strecke lässt sich nicht einfach zurücklegen, es ist keine Reise, bei der man den Punkt A verlässt um in B anzukommen.Der Ich-Erzähler in Lentz´ Roman ist herausgefordert, sich seine Seelenlage in den Zügen der deutschen Bahn zu erfahren. Als Bahnnutzer ist er unterwegs auf dem deutschen Schienennetz, passiert er Durchgangsbahnhöfe und landet in Kopfbahnhöfen. Diese Ortlosigkeit findet ihre Entsprechung in einer Reise im Kopf, die der Ich-Erzähler gleichzeitig unternimmt. Sie führt ihn zu verschiedenen Stationen seiner vergangenen Liebe. Für diese Reise gibt es keinen Streckenplan, kein Schienennetz, aber es existieren Haltepunkte, denn es gibt Erinnerungen. Lässt man sich auf das Erinnerte ein, hat man Anschlüsse, muss auf Umwege gefasst sein, ist aber unterwegs. Dieses Verfahren der Reise durch den Kopf ähnelt den Reisen, die der Erzähler mit der Deutschen Bahn unternimmt, nur eins unterscheidet dieses Reisen kolossal von der Bahnbenutzung: es gibt keine fest verlegten Gleise, die ein Ankommen wahrscheinlich machen. Die Fahrt im Kopf kennt keinen festen Endpunkt, keine sicheren Zwischenstationen.Vielleicht beschreibt Michael Lentz - darin dem Ich-Erzähler in dem 2002 in dem Prosaband Muttersterben veröffentlichten Text Allóra! ähnlich - wirklich keine Seelenzustände, weil er nicht weiß, was Seele ist, aber umso genauer vermag er Zustände zu beschreiben. In Liebeserklärung sind es solche, die einem in einer Liebe zustoßen, und die in zugespitzten Situationen nichts Statisches, sondern etwas sehr Dynamisches haben.Vom Verschwinden ist in den Texten von Michael Lentz ebenso häufig die Rede wie von den unterschiedlichen Versuchen seiner Figuren, sich in Räumen zu behaupten. Es ist ein Mangel der Zustände, nicht der Texte, dass Vertrautes keine Dauer hat, dass es vergeht. Während ein Haus verschwindet, wird in der Erzählung Garten (aus: Muttersterben) gleichzeitig der Verlust der Mutter beklagt. Die Mutter ist nur in diesem Haus, in diesem Garten erinnerbar, so dass Haus und Garten ohne sie unvollständig sind. Zurück bleiben Lücken, Löcher, Michael Lentz spricht von "Sprachlöchern", in die hinein Erinnerungen verschwinden.Das Ohr ist ein solches Loch, in das geöffnete verschwindet gesprochene Sprache, die sich in Erinnerungsräume einnisten kann, die verschwindet. Aber Sprache verschwindet nicht immer spurlos, denn sie kann aufgerufen und erinnert werden, sie kann durch einen Mund- oder Schriftraum mitgeteilt werden. Mit dem "Stimmenskalpell" ist es Michael Lentz möglich, Sprache zu sezieren, sie bis zu Ursprüngen zurückzuverfolgen. Auch wenn nicht alles Gehörte, nicht alles Gesagte, erinnert werden kann, erinnert man sich manchmal an etwas, das man bereits vergessen hat. Dieses Verfahren, Erinnern als einen Sprachvorgang zu beschreiben, der etwas mit dem Unterwegssein Vergleichbares hat, wendet Michael Lentz auch in Liebeserklärung an, ein Verfahren, das an Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erinnert und an Walter Benjamins Aussage, dass das Vergessen zum Erinnern gehört. Michael Lentz´ Suche nach so genannten Sprachlöchern ist mit dieser Erinnerungsarbeit vergleichbar, seine Texte zeichnet die Suche nach Sprachspuren aus, die sich in die "Hirnwalze" eingeschrieben haben.Auffällig an den Texten von Michael Lentz ist eine gewisse Dominanz von "Löchern", besonders von solchen, in die hinein ein absolutes Verschwinden möglich ist - von einer "Lochandacht" ist auch Liebeserklärung die Rede. Ein Loch in einem von der Mutter genähten blauen Esel wird zum Anlass genommen, über das Loch an sich nachzudenken: "Ist ein Loch erst mal da, kann es nicht mehr vergessen werden." Auch gestopfte Löcher schaffen das nicht. Der verzweifelte Wunsch des Ich-Erzählers, dass Weihnachten und die Familie durch das Loch im Esel verschwinden könnten, war ein kindlicher Wunsch, der in der Erinnerung als klaffende Wunde zurückgeblieben ist, als ein Loch, das nicht mehr gestopft werden kann.Es handelt sich dabei um das ganze Gegenteil der Bildbeschreibung, die am Anfang der Erzählung Einige biologische tatsachen und andere erzählungen (aus: Muttersterben) steht. Dort heißt es: "Da steckt also der geier bis zum anschlag im arschloch der kuh." Das ist drastisch, aber der Natur abgeschaut, und, so erfahren wir am Schluss der Erzählung, es hat "Tradition, die kein Ende hat." Verwundert es da, dass sich angesichts der Vielzahl der von Text umstellten Löcher in dem Gedichtband von Michael Lentz Aller Ding (2003) unter dem Eintrag "worte des jahrhunderts" nur ein Wort findet? Eben jenes Kompositum, in dem der Geier steckt?Es ist, als wolle Michael Lentz mit seinen Texten das Erinnern, das sich in einem Raum außen befindet, in einen Innenraum zurückholen. Deshalb diese Aufmerksamkeit für Räume, die mit Bedeutungen aufgeladen werden, damit sich das Erinnern in ihnen entfalten kann. Zugleich werden diese Räume nach Lücken und Löchern abgesucht, weil durch sie oder in sie hinein Erinnertes verschwinden kann. Für seine Erkundungen verfügt Michael Lentz über ein sehr verlässliches Instrument, es ist die Sprache, die er wie kaum ein anderer seiner Generation zu nutzen weiß.Michael Lentz: Liebeserklärung. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2003, 190 S., 16,90 EUR, Fischer Taschenbuch 8,90 EUR
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