Nahezu jeder Winkel auf diesem Globus ist heute erforscht, vermessen, kartographiert. Unsere Gesellschaft ist mobil wie nie; längst reicht der eigene Planet nicht aus, um die Neugier auf das Unbekannte zu befriedigen. Wir reisen viel und entdecken wenig. "Ultima Thule" und "terra incognita" sind Synonyme für archaische Träume von der Erforschung der Räume, die hinter der endlich erfahrbaren Wirklichkeit liegen sollen. Zeitgenössische Romane von Raoul Schrott, Michael Roes, Christoph Ransmayr, Alex Capus oder Klaus Böldl sind Beispiele für eine allegorische Aneignung von Wirklichkeit, ohne deren irdische Beschaffenheit aus Schmutz, Ekel und Tod zu übersehen. Sie zeugen alle von einem Interesse, den Spannungsbogen von einem Ursprung hin zu einer Endlic
lichkeit zu schlagen und dabei die Dimensionen individueller Erfahrung zu reflektieren. Es geht dabei nicht nur um die Erkundung exotischer Regionen, sondern um Konfrontationen mit fremden und eigenen Grenzen. Daher spielen sich diese Reisen zu einem guten Teil auch im Kopf der Figuren ab. Das ist keine herkömmliche Reiseschriftstellerei, die Grenzen zwischen Dokument und Fiktion sind hier fließend. Es sind Balanceakte zwischen poetischer Archäologie, düsterer Endzeitvision und obsessiver Erdkunde. Es gilt an die Grenzen der Welt und an die Grenzen der Sprache vorzustoßen. Eine Fülle von geographischen und ethnologischen Details bereichert diese Texte; Wüsten dienen hier als literarische Projektionsfläche und als Folie einer individuellen Suchbewegung.Es geht dabei um die individuelle, vor allem um die sinnliche Erfahrung: "Nicht kulturen begegnen einander, sondern gesichter, gerüche, stimmen", so Roes. Dahinter steht ein kulturanthropologisches Interesse, das Roes als "realismus ohne resignation" bezeichnet hat. Die Faszination der Fremde erschüttert hier alle Gewissheiten europäischer Intellektualität, ohne sie jedoch ganz aufzugeben, und korrespondiert mit dem Wunsch, "Differenzierungen zuzulassen und Polaritäten aufzulösen".Auch im beeindruckenden Debütroman des 1966 in Wien geborenen und dort lebenden Thomas Stangl Der einzige Ort, der sich nahtlos in die Phalanx dieser (historischen) Reiseromane einzugliedern weiß, vermitteln die minimale Verschiebung von Wahrnehmungsperspektiven und die Bewegungen durch Raum und Zeit Einsichten und öffnen Erzählperspektiven. Das Aufgehen und Verschwinden in einem amorphen Raum- und Zeitbegriff hat auch hier gar nichts Idyllisches. Die erzwungene Verlangsamung des Lebens und damit die Konservierung jeder Äußerung verdeutlicht die Entfremdung von Menschen, die der Einsamkeit und Klarheit der Wüste ausgeliefert sind. Die Natur bleibt unverfügbar, man kann nur aus ihr lernen.Stangl erzählt die Geschichte zweier Expeditionen Anfang des 19. Jahrhunderts nach Timbuktu, jener sagenumwobenen Universitätsstadt aus dem 12. Jahrhundert, im heutigen Mali gelegen und mit seinen drei Moscheen Djingaryber, Sankore und Sidi Yahia zum Weltkulturerbe zählend. Ein englischer Major namens Alexander Gordon Laing durchquert im Auftrag der Royal Society mit einer Karawane von Tripolis aus die Sahara und zwei Jahre später nähert sich von Süden, vom Senegal aus, der "Bäckerjunge und Waise aus Frankreich (...) dem magischen Ort, dem man, aus Angst vor einer sicheren Enttäuschung, im Erzählen beinahe ausweichen möchte": der als Araber verkleidete, alleinreisende Abenteurer und Forscher René Caillié, "von niemandem beauftragt und von niemandem unterstützt". Keiner weiß, was sie erwarten wird, sie kennen nur die Legenden, die vom märchenhaften Reichtum dieser afrikanischen Metropole künden.Erzählerische Ökonomie ist Stangls Sache nicht; mit der sprichwörtlichen Liebe zum Detail und der großen Lust an jeglicher Abschweifung skizziert er präzise und gestaltungssicher die Stationen der strapaziösen Reisen. Eine Geschichte greift in die andere, topographische und historische Exkursionen füllen die eng beschriebenen, leider mit vielen Parenthesen arbeitenden Seiten dieses Wüstenwälzers, hinter dem ein belesener, fast manisch akribischer Geist stecken muss. Jedenfalls werden zahlreiche Dokumente und Quellen - von Herodot bis zu Leo Frobenius Africanus - zitiert, Stangl spannt einen fulminanten Bogen dreitausendjähriger Zeitgeschichte und bindet die Erlebnisse seiner beiden Helden in diesen breit aufgefächerten kulturhistorischen Kontext ein.Nur einer wird nach Europa zurückkehren, allerdings mehr tot als lebendig, und trotz erhaltener Aufzeichnungen bald in Vergessenheit geraten. Letztlich ist es eine Geschichte der Leiden, die Stangl erzählt, keine strahlende Helden- und Eroberungssaga aus der Zeit der beginnenden Kolonialisierung. Der Mythos Timbuktu entpuppt sich schnell als Fata Morgana, die Stadt gleicht einem Elendsquartier. Dazu kommen die unmenschlichen Anstrengungen, die die beiden Entdecker im Kampf mit der glühenden Hitze, mit Sandstürmen, Schmutz und Entbehrung unternommen haben und die ihnen am Ende gleichsam den Verstand rauben.Mit einer Mischung aus Mikrorealismus und Traumdichtung nähert sich Stangl auf eindrucksvolle Weise dieser diffusen Bewusstseinslage seiner Figuren und hält ihre Geschichte so in einem stetigen Schwebezustand. Thomas Pychon und Jorge Luis Borges dürften als literarische Weggefährten gedient haben; die Skurrilität der Figuren, ihre Imaginationen und die immer wiederkehrende Reflexion des Erzählten im Prozess des Erzählens selbst verweisen darauf. Thomas Stangl hat einen opulenten, erstaunlich konzentrierten Text voll sinnlicher Eindrücke und Nuancen vorgelegt, der das Genre "Historischer Roman" auf den Stand modernen Erzählens hebt.Thomas Stangl: Der einzige Ort. Roman. Droschl, Graz und Wien 2004, 406 S., 25 EUR