Die Revolution holt Schwung

Ägypten Der Aufstand gegen den Präsidenten zeigt, dass die Zeit für einen autoritären Politikstil endgültig vorbei ist. Nur Mursis Anhänger erkennen das noch nicht
Der Tahrir-Platz hat nichts von seiner revolutionären Aura eingebüßt
Der Tahrir-Platz hat nichts von seiner revolutionären Aura eingebüßt

Foto: Andre Pain/EPA

Mariam ist im Kairoer Viertel Heliopolis in der Nähe des Präsidentenpalastes aufgewachsen. Sie erinnert sich noch gut daran, wie auf dem Boulevard vor dem Palasttor einst ein Checkpoint auf den anderen folgte. Anfang Februar 2011, während der letzten Tage der Mubarak-Ära, konnte die damalige Studentin kaum einen Schritt gehen, ohne ihren Ausweis zeigen zu müssen und sich von Männern aus Geschütztürmen anstarren zu lassen.

Überall auf der Welt sind die Sicherheitsvorkehrungen in der Umgebung von Regierungsämtern hoch. Doch in Heliopolis rührt das Gefühl, ein unwillkommener Eindringling zu sein, an etwas, das tief im kollektiven Bewusstsein der Ägypter wurzelt. Als Eindringlinge galten sie in jenen verriegelten Räumen, in denen über ihr Leben, ihre Familien und ihre Gesellschaft entschieden wurde. Nicht nur Mariam – der Mehrheit in Ägypten wurde das eine ganze lange Geschichte hindurch so beigebracht. Die politische Elite dieser Nation hat die breite Bevölkerung von jeher als Masse statischer Teilchen ohne Handlungsvermögen betrachtet, die durch systematische Kontrolle überwacht, unterdrückt und befriedet werden müssen.

Nicht nur auf dem Tahrir-Platz

Dieses autoritäre Regierungsverständnis hielt sich, auch wenn die Ideologien und Motivationen der Herrschenden wechselten. Es war unter den Kolonialbeamten nicht anders als während der Militärdiktatur nach 1952 oder unter Mubaraks Kleptokraten. Es blieb so, als sich eine Militärjunta vor einem Jahr berufen fühlte, den Übergang zur Demokratie zu regeln. Und dieses Verständnis behauptet sich auch unter dem Patronat der Muslimbruderschaft. Denn deren Kritik an den Problemen Ägyptens ist keine strukturelle, sondern eine moralische. Ihre Machtvorstellung beruht eher auf Ausgrenzung als Pluralismus. All diese Regimes haben den Mantel der revolutionären Legitimität für sich beansprucht und das Narrativ des progressiven Wandels bemüht. Alle haben sich eines kruden – nationalistischen und religiösen – Symbolismus bedient, um Ägypter gegen Ägypter auszuspielen, die eigene Macht zu festigen und den Status quo zu erhalten. Und alle sind auf rohe Gewalt verfallen, wenn sich Widerstand regte. Gegen eben diesen autoritären Staat richtet sich die Revolution seit dem Januar 2011.

Wohlmeinende Kommentatoren haben beklagt, dass die Utopie der „18 Tage des Anfangs“ auf dem Tahrir-Platz dem Blutvergießen gewichen sei. Statt der Einheit, die so viele Ägypter gegen Mubarak beseelt habe, gebe es nun den Umschlag in zermürbende Konflikte. Wer das beklagt, vergisst, dass die Erhebung nie eine pazifistische Revolte war und nie sein konnte: Mehr als hundert Polizeiwachen wurden Anfang 2011 niedergebrannt, als Revolutionäre der staatlichen Gewalt Widerstand entgegensetzten. Nun gibt es eine erneute Eskalation. Dabei spielt die Bruchlinie „Islamisten gegen Säkulare“ eine Rolle. Doch sollte dies nicht die Linse sein, durch die das Szenario vorrangig betrachtet wird.

Es gab nie einen „goldenen Kampf“, der zu einem glorreichen Abschluss gekommen wäre, als Mubarak von der Macht abließ. Es blieb auch danach bei der Konfrontation mit einem Staat, der seinen Bürgern jedes Mitspracherecht über ihre Zukunft verwehrt. Wie dieser Kampf ausufern kann, lässt sich gerade auf den Straßen von Heliopolis erleben.

El-Baradeis Plattform

Anders als seine Vorgänger wurde Mohammed Mursi demokratisch gewählt, doch seine Vorstellung vom Regieren ist so limitiert, so konservativ und so wenig demokratisch wie die Mubaraks zuvor. Er redet zwar von „revolutionären Märtyrern“, der Sicherheitsapparat jedoch, der sie getötet hat, bleibt auch unter der Muslimbruderschaft intakt. In den ersten hundert Tagen von Mursis Regentschaft zählten Menschenrechtsvereine 88 Fälle von Polizeifolter, die in 34 Fällen zum Tode führte. Opposition – ob sie sich über die legalen Wege artikuliert oder auf die Straße geht – gilt als feindliche Verschwörung, nicht als legitimes Ferment des politischen Lebens.

Dass der Verfassungsentwurf, über den an diesem Samstag abgestimmt werden soll, fast nur von alten, islamistischen Männern geschrieben wurde, legt Zeugnis ab vom autoritären Zugriff der Muslimbrüder auf das kollektive Bewusstsein der Nation. Abweichende Stimmen werden mit Hilfe von Mursis Dekreten ausgebootet. Sie halten den Wählern – metaphorisch gesprochen – ein Gewehr an den Kopf: Stimmt für meine Verfassung und bestätigt meine außergerichtliche Diktatur.

Bei einer wirklichen Demokratie geht es um mehr als einen Wahlzettel, der im Abstand von vier Jahren verabreicht wird. Und bei der ägyptischen Revolution ist es mit einer bloß formalen, institutionellen Demokratie nicht getan. Seit nun fast zwei Jahren haben sich ganz gewöhnliche Ägypter ungeordnet und unnachgiebig den Weg in die politische Machtarena gebahnt. Nicht nur auf dem Tahrir-Platz. Vom Nildelta bis zu den Stämmen der Beduinen und den Slums der Städte widersetzen sich Menschen erstickenden Normen, die bestimmen, wer etwas zu sagen hat über die Welt um sie herum. Das alte Spiel der Eliten, bei dem über ein Netzwerk der Patronage von oben entschieden wird, wer unten Zugang zu staatlichen Ressourcen erhält und wer nicht, geht nicht mehr auf. Nur scheinen diejenigen, die der überholten Vorstellung vom autoritären Staat anhängen (wie eben die Muslimbrüder), das nicht bemerkt zu haben.

Ein ägyptischer Bekannter hat den Aufstieg der Muslimbrüder zur politischen Vormachtstellung neulich mit dem Kampf eines Mannes verglichen, der sich zur Brücke der Titanic durchgeschlagen hat und nun – blutüberströmt und voller Blessuren, aber triumphierend – die Hände auf das Steuerrad legt. Das geschieht in dem Moment, als das ganze Schiff zu sinken beginnt. Die Metapher spielt an auf die Weigerung der Muslimbrüder, endlich zuzugeben, dass sich mit dem alten politischen Werkzeug nichts mehr anfangen lässt. Hat es Ägypten doch dorthin gebracht, wo es heute steht. Dieser Bruderschaft fehlt es am Vermögen wie der Bereitschaft, mit einer Revolution der Gerechtigkeit zu dienen und die Machtmechanismen des Landes – von der lokalen bis zur nationalen Ebene – für normale Bürger zu öffnen.

Das bedeutet, die Erwartungen vieler Ägypter haben sich nicht erfüllt – auch der Millionen, die Mursi gewählt haben, aber die rigide Autokratie wie neoliberale Orthodoxie seiner Führung ablehnen. Daher ist die Graswurzel-Revolution nicht vorbei. Nur fehlt es der pro-revolutionären und gegen Mursi gerichteten Strömung an Einheit, um sich auf der nationalen Bühne die nötige Präsenz zu verschaffen. Revolutionäre an der Basis sind zu Recht misstrauisch gegenüber älteren Revolutionsgranden, die schon in der Mubarak-Ära in der Politik waren. Über sie ist zu hören, sie könnten bloß innerhalb der existierenden Strukturen um Positionen rangeln, sich aber nicht daran beteiligen, für Staat und Gesellschaft ein radikal neues Modell zu finden. Um so bedeutsamer ist es, dass unter der Führung Mohammed el-Baradeis eine vereinte Plattform der Opposition in Erscheinung tritt. Dass es sie gibt, wird nur durch den Mut derer möglich, die unter Einsatz ihres Lebens auf der Straße kämpfen.

Viele wären entsetzt

Der Regierung Mursi ist es zuletzt immer schwerer gefallen, den Straßenprotest als wilden Akt des Verrats zu verunglimpfen. Der Präsident musste sogar einlenken und sein Dekret zu totalitärer Selbstermächtigung zurückziehen. Es häufen sich die Hinweise auf Unruhe im Regierungsapparat – Präsidentenberater treten zurück, ägyptische Botschafter weigern sich, in ihren Missionen über die Verfassung abstimmen zu lassen, die Armee schweigt nicht länger, sondern warnt. Jeder Tag kann eine Dynamik entwickeln, die den Wandel herbeiführt oder zumindest Erinnerungen weckt an jene geheiligten 18 Tage vor dem Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011. Die Option, alles auszusitzen, scheint für Mursi seit dem vergangenen Wochenende hinfällig zu sein.

Am Sonntag ging ich zusammen mit Mariam im Viertel Heliopolis an der Mauer des Präsidentenpalastes vorbei und jene Straße hinunter, die sie aus ihrer Jugend als Ort staatlicher Einschüchterung kennt. Nun kann sie sich hier frei bewegen. Wieder hatten Demonstranten die Polizeisperren durchbrochen. Mariam posierte neben dem Hauptportal des Gebäudes unter dem riesigen Emblem eines Adlers – dem ägyptischen Staatswappen. Fuck Mursi und ACAB (All cops are bastards) hatte jemand darauf geschrieben.

Viele Ägypter wären entsetzt über solche Äußerungen. Wenn sie an dieser Palastmauer zu lesen sind, kann das ein Indiz dafür sein, dass diese Revolution so bald nicht verschwinden wird. Die Bevölkerung Ägyptens steht buchstäblich vor den Toren der Macht. Wer das als Politiker ignoriert, gefährdet sein politisches Überleben.

Jack Shenker ist Guardian -Korrespondent in Ägypten

Von einer ägyptischen Autokratie zur nächsten

Faruks Dynastie

Als König Faruk I. 1936 den Thron besteigt, übernimmt er von seinem Vater eine konstitutionelle Monarchie, die das Parlament zum Schattendasein verdammt. 1952 wird Faruk vom Komitee der Freien Offiziere unter Gamal Abdel Nasser gestürzt. Mit dem Königtum in Ägypten ist es zwar endgültig vorbei, doch ebnet die 1953 ausgerufene Republik keinesfalls den Weg zu einer parlamentarischen Demokratie.

Nassers Sozialismus

Zunächst als Premier, später als Präsident an der Macht, hält Nasser nichts von einer Rückkehr der Streitkräfte in die Kasernen. Deren Herrschaft betrachtet er als beste Gewähr, um Staat und Volk auf den Weg eines panarabischen Sozialismus zu führen, der Vorbild für andere Nationen im Nahen Osten sein sollte. Die zeitweise Vereinigung (1958) mit Syrien zur Vereinigten Arabischen Republik (VAR) stärkt die Dominanz der Armee zusätzlich.

Sadats Patriarchat

Der ehemalige Offizier Anwar as-Sadat lässt sich 1970 bei Übernahme der Präsidentschaft immerhin durch einen Volksentscheid bestätigen (er erhält 90 Prozent). Danach aber erklärt er sich zum „Werkzeug einer göttlichen Mission“. Es sei ihm gegeben, die „Stimme des Volkes“ und „die Stimme Gottes“ in sich zu vereinen. So trägt auch Sadats Amtsführung autoritäre Züge, was bis zu seinem gewaltsamen Tod 1981 so bleibt.

Mubaraks Diktatur

In der fast 20-jährigen Amtszeit Mubaraks wird der Ausnahmezustand – verhängt nach dem Attentat auf Vorgänger Sadat – niemals aufgehoben. Wichtigste Machtsäulen während dieser Präsidentschaft sind Armee und Geheimdienst sowie eine Allianz mit der konservativen Geistlichkeit der Al-Azhar-Universität.

Tantawis Interregnum

Nach Mubaraks Sturz Anfang 2011 leitet Marschall Tantawi den Militärrat, der für innere Stabilität und faire Präsidentschaftswahlen sorgen soll. Doch kann Tantawi kein Wegbereiter einer Demokratisierung Ägyptens sein, nachdem er 20 Jahre lang als Verteidigungsminister und enger Vertrauter Mubaraks dem gestürzten Regime gedient hat.

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