Die Revolution mag keine Zinsen

Im Gespräch Nora Castañeda, Direktorin der Venezolanischen Entwicklungsbank der Frau "Banmujer", über Kleinkredite, Kleinbetriebe und Identitäten

Die Ökonomin Nora Castañeda ist seit der Gründung im Jahr 2001 Direktorin von Banmujer. Zuvor arbeitete sie im Institut für Frauenforschung an der Universidad Central in Caracas. Als Tochter einer allein erziehenden Mutter mit geringem Einkommen und indigener Herkunft war sie schon früh der Not ausgesetzt, wie sie bis heute Hunderttausende venezolanischer Frauen zu ertragen haben.

FREITAG: Warum gibt es mit "Banmujer" eine Bank, die ihre Kredite und Darlehen allein an Frauen vergibt?
NORA CASTANEDA: 1995 reiste ich mit einer Delegation zur Weltfrauenkonferenz der UNO nach Peking. Dort wurde auch darüber debattiert, dass die weltweit unterhalb der Armutsgrenze Lebenden nicht nur zu 70 Prozent Frauen sind, sondern fast nirgendwo den Zugang zu irgendwelchen Krediten haben. Bei Frauen der Unterschicht geht man von vornherein davon aus, sie haben keine Aktiva, um einen Kredit zu decken. Also mussten wir in Venezuela unter - zugegeben politisch günstigen Umständen - für Instrumente sorgen, das zu ändern.

Wie groß ist derzeit in Ihrem Land der Anteil derer, die am Rande oder unterhalb des Existenzminimums leben?
Der liegt bei etwa 68 Prozent der Bevölkerung. Davon wiederum sind zwei Drittel Frauen, zumeist allein stehende Frauen, die ihre Kinder nur auf sich gestellt durchbringen, denn in Venezuela lassen viele Väter ihre Familien im Stich.

Warum war von Anfang an klar, dass es keine private Bank sein sollte?
Wir dachten an eine Bank des Staates, weil Präsident Chávez 1999 eine Gruppe von Frauen berufen hatte, um den Consejo Nacional de la Mujer (CONAM/Nationaler Rat der Frau) zu gründen. Und der CONAM griff die Idee einer Bank für Frauen wieder auf. Aber erst nach dem UN-Millenniumsgipfel stimmte Chávez ihrer Gründung endgültig zu.

Wie funktioniert Ihr Unternehmen?
Wir waren uns stets einig, vorzugsweise Kredite vergeben zu wollen und nicht Sparer einzusammeln. Wir fahren in die Gemeinden, kontaktieren dort Partner wie den Gemeinderat oder die Kirchen und unterbreiten dann den Frauen unser Angebot.

Mit anderen Worten, Frauen kommen nicht zu Ihnen, um einen Kredit zu erhalten?
Nein, wir gehen zu ihnen. Und wenn sich Frauen an uns wenden, sagen wir ihnen zweierlei: Wir kommen in eure Gemeinde, aber wir setzen uns für das Kollektiv, nicht für Einzelpersonen ein. Dann wird uns oft gesagt: "Das interessiert mich nicht. Ich möchte einen Kredit, um mir ein Auto zu kaufen." Wir erwidern: "Wir vergeben keine Kredite für ein Auto, wir geben Ihnen einen Mikrokredit als Startkapital, damit Sie ein kleines Unternehmen gründen, das es Ihnen erlaubt selbstständig zu sein."

Wenn das jemand annimmt - zu welchen Konditionen gibt es den Kredit?
Es wird eine Rückzahlungsfrist von ein bis drei Jahren vereinbart. Je länger die Frist ist, desto niedriger die Rate; der Zinssatz ist sehr niedrig, denn der venezolanische Staat kann sich das erlauben. Für Kredite im Handwerk liegt er bei einem Prozent, in der Landwirtschaft teilweise unter einem halben Prozent, weil wir wollen, dass wieder mehr Agrargüter im Inland hergestellt werden und Venezuela so die Souveränität über seine Nahrungsmittelproduktion zurückgewinnt. Heute kommen 70 Prozent aller Lebensmittel aus dem Ausland.

Wie viel der von Ihnen so ermöglichten und protegierten Kleinunternehmen können sich halten?
Ein Gesetz der Wirtschaft besagt, nicht alle kleinen Firmen überleben: Weil es zu viele Niederschläge gibt und die Ernte kaputt geht. Oder weil nicht genug verkauft wird. Doch wenn wir Probleme schon im Vorfeld erkennen, lässt sich manchmal der Konkurs verhindern. Deshalb sind Investitionspläne so wichtig. Viele Frauen haben doch in der Regel noch nie den Fuß über die Schwelle einer Bank gesetzt - woher sollen sie wissen, wie man mit einem Kredit umgeht?

Und wie gehen die Betroffenen damit um?
Viele Frauen zeigen mehr Selbstvertrauen, weil sie selbst etwas entscheiden müssen. Genau genommen, versuchen wir so etwas wie Identitätspolitik zu betreiben: Frauen in Entwicklungsländern wie Venezuela werden oft diskriminiert. Nicht nur weil sie Frauen sind, auch weil ihre Vorfahren Schwarze sind oder Indígenas. Deshalb ist es so wichtig, dass wir unser Potenzial entdecken. Mit diesem Ansatz unterscheiden wir uns von anderen Banken: Wir wollen nicht nur Kredite vergeben, sondern Frauen helfen, ihre Geschicke selbst zu regeln.

Entscheidet auch die politische Einstellung darüber, wer einen Kredit erhält?
Nein, wenn wir in eine Gemeinde fahren, fragen wir nicht, ob die Leute mit Hugo Chávez sympathisieren oder nicht. Aber natürlich möchten wir, dass die Frauen verstehen, wenn sie von einem Kreditprogramm dieser Art profitieren, dass dies nur dank einer revolutionären Regierung möglich ist.

Das Gespräch führte Ingrid Wenzl


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