Die rohe Kraft des Offensichtlichen

Schauergeschichten Michael Moore stellte in Cannes seinen neuesten Film über das amerikanische Gesundheitssystem vor

Mehr Entertainment als Information, mehr Polemik als Diskussion und das Ganze durch grobe Vereinfachung komplexer Zusammenhänge: Es ist, als wolle Michael Moore mit dem neuen Dokumentarfilm Sicko seinen Kritikern ein lautes "Ihr habt ja so Recht!" zurufen. Wie gehabt benutzt er Menschenschicksale als bloße Stichwortlieferanten, schneidet unkonzentriert, aber immer um den Witz bemüht zwischen dem Demokratie-Experten und einer weinenden Mutter hin und her, garniert seine eigenen Aussagen dumm-illustrativ mit dem endlosen Füllstoff amerikanischer Archivbilder aus den Fünfzigern und stellt nie eine Frage, die seiner Argumentation widersprechen könnte. Nach Fahrenheit 9/11 kaum vorstellbar, aber in Sicko, in dem es um das amerikanische Gesundheitssystem geht, verfährt Moore vielleicht sogar noch eine Spur populistischer, gröber und polemischer. So populistisch, dass von diesem Film sogar tatsächlich die Gefahr ausgehen könnte, dass er etwas bewirkt.

Und das kommt so: Das amerikanische Gesundheitssystem - Michael Moore braucht keine zehn Minuten, um das darzulegen - hat seinen Namen nicht verdient. Auf der einen Seite gibt es Millionen von Unversicherten, für die ein Krankenhausaufenthalt der sichere existentielle Ruin bedeutet, auf der anderen gibt es Millionen von Versicherten, für die es kaum anders aussieht. Der Grund: die privaten Versicherungsfirmen wollen schließlich Profite machen, und zwar möglichst viel, weshalb sie ihre Angestellten dazu ausbilden, auf trickreichen Wegen den Versicherten die Leistungsübernahme zu verweigern. Der sichere Tod des Versicherten wird da schon mal billigend in Kauf genommen. Weil ihr Kind vom Notfallwagen nicht in die von ihrer Versicherung kontraktierte, sondern einfach die nächste Klinik gefahren wurde, bekam es nicht die notwendige schnelle Behandlung - und musste sterben, erzählt eine Mutter unter Tränen. Ein Mann musste sich nach einem Arbeitsunfall mit der Säge entscheiden, ob er den Ring- oder den Zeigefinger wieder angenäht haben wollte, beides zusammen hätte die Versicherung nicht bezahlt. Schauergeschichte reiht sich an Schauergeschichte - Michael Moore hat auf einer Webseite zur Einsendung aufgerufen - und man möchte schon bald niemals mehr im Leben eine amerikanische Klinik betreten.

Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, zieht Moore im Film mit seiner Kamera wieder nach Kanada. Und siehe da: dort werden in Krankenhäusern doch tatsächlich Menschen behandelt und niemand fragt, ob sie das auch bezahlen können. Noch besser ist es in England, wo an der Kasse der Krankenhäuser auch noch Geld an die Kranken ausgezahlt wird. Oder in Frankreich, wo Ärzte Hausbesuche machen und nach der Niederkunft jungen Müttern mit Staatshilfe die Wäsche gewaschen wird. Als Europäer reibt man sich ob dieser Schönrednerei die Augen: Sollte der Weltbürger Michael Moore noch nie etwas von den großen Auseinandersetzungen über die gerechte Finanzierung dieser Gesundheitssysteme gehört haben? Sollte er nicht wissen, dass man sie gerade ständig reformiert und für nicht zukunftsfähig hält?

Einer der Wirkungen, die Michael Moore mit Sicko Gefahr läuft zu erzeugen, ist deshalb sein eigener Untergang: Man kann seine Präsentation der Argumente kaum mehr ernst nehmen. Spätestens aber, als er zum guten Schluss noch mit einer Gruppe von New Yorker Feuerwehrmännern nach Kuba fährt, um dort einen 9/11-Versehrten behandeln zu lassen, fragt man sich, ob man nicht vielleicht tatsächlich genau so argumentieren muss. Was soll schließlich der Aufwand des nach Hintergründen-Fragen? Lenkt das Zahlengeklimpere von Politikern und Krankenversicherungen nicht einfach ab? Verdeckt die Diskussion um Beitragsbemessungsgrenzen und Praxisgebühren nicht vielmehr die rohe argumentative Kraft des Offensichtlichen? Denn es kommt doch schließlich auf nichts Anderes an, als eben die Kernfrage: Wenn mir etwas zustößt und ich muss ins Krankenhaus, wird mir dort bedingungslos geholfen?


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Geschrieben von

Barbara Schweizerhof

Redakteurin „Kultur“, Schwerpunkt „Film“ (Freie Mitarbeiterin)

Barbara Schweizerhof studierte Slawistik, osteuropäische Geschichte und Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeite nach dem Studium als freie Autorin zum Thema Film und Osteuropa. Von 2000-2007 war sie Kulturredakteurin des Freitag, wechselte im Anschluss zur Monatszeitschrift epd Film und verantwortet seit 2018 erneut die Film- und Streamingseiten im Freitag.

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