Die Sache mit dem Schutzengel

MODERNES MÄRCHEN Jutta Richters Geschichte spielt unter Menschen, die auf der Straße leben

Neuner ist ganz allein. Nicht allein zu Haus, sondern schlimmer: allein auf der Straße. Nach Hause kann der Junge, der so alt ist, wie er heißt, nicht. Denn da ist Mamas "Neuer", der immer gleich ausrastet und zuschlägt. Mama liegt im Krankenhaus, genau deswegen. Vor der schlimmen Nacht, als es passierte, hatte Mama wenigstens immer heimlich ein Fenster offen gelassen, damit Neuner zur Schlafenszeit einsteigen und etwas essen konnte. Damit ist es jetzt vorbei.

Zum Glück hat Neuner Kosmos kennen gelernt, einen ziemlich gutmütigen jungen Kerl, der ebenfalls ohne feste Bleibe ist. Oft sitzen sie am Fluss und träumen ihren gemeinsamen Traum: Weggehen von hier, ans Meer ziehen, wo es warm ist und das Leben nicht so schwer, vielleicht eine Bude am Strand aufmachen... Aber um zum Meer zu gelangen, braucht man Geld. Kosmos kennt eine Kneipe namens Caracas, wo Leute mit Geld verkehren, "so Villenheinis mit Cabrio", sagt er. Dort versuchen die Beiden ihr Glück. Und tatsächlich, es scheint ihnen hold, in Gestalt einer feinen Dame, die alle ehrfürchtig die "Königin" nennen. Die Königin willigt in einen seltsamen Handel ein: Sie kauft Neuners Schutzengel - das Wertvollste, was er zu bieten hat - für sage und schreibe tausend Mark! Nun haben die beiden Streuner zwar Reisegeld, aber wird die Sache gut gehen, ganz ohne Schutzengel?

Nein, sie geht gar nicht gut. Eines Nachts türmt Kosmos mitsamt dem Geld, besinnt sich dann aber eines Besseren und kehrt reumütig zu seinem kleinen Schützling zurück. Dann wird Neuner krank, braucht dringend Hilfe. Und seinen Schutzengel braucht er auch. Noch einmal hilft der glückliche Zufall und sorgt für ein Wiedersehen mit der Königin vom Caracas. Und so nimmt alles doch noch einen guten Ausgang. Alles? Nun ja, wir wollen doch hoffen, dass Neuners Mama bald wieder gesund ist, und dass sie diesem Schläger, mit dem alles Unheil begann, schleunigst den Laufpass gibt. Vielleicht hilft ihr ja die Königin dabei, die hat selber genug durchgemacht im Leben und weiß, wie man mit solchen Typen fertig wird.

Doch so weit erzählt Jutta Richter die Geschichte nicht mehr. Das können ihre kleinen Leser und großen Vorleser ja tun. Und sich vielleicht auch darüber Gedanken machen, wieso Neuners Mama, die sich doch früher liebevoll um ihn gekümmert hatte, es überhaupt dulden konnte, dass ihr zweifelhafter "Freund" den Jungen so brutal behandelte. Die kleinen Leser könnten mit den großen auch darüber sprechen, wie vielen Kindern bei uns und in anderen Ländern es ähnlich schlimm wie Neuner ergeht, so dass sie auf der Straße landen. Und dass dann leider meist keine wohlhabende "Königin" mit Herz zur Stelle ist.

In Jutta Richters Geschichte darf sie zur Stelle sein, denn hier sind wir in einem Märchen. Aber doch in einem sehr modernen, gegenwartsnahen Märchen: Menschen wie Kosmos, dessen ganze Habe in zwei Plastiktüten passt, gibt es überall. Menschen wie die "Königin" gibt es auch - sie ist nämlich, wie sich herausstellt, eine Frau, die mit jungen Jahren von zu Hause davon lief, durch Prostitution einen gewissen Aufstieg schaffte und ihre Träume nicht vergaß. Sogar die Sache mit dem Schutzengel greift die Autorin nicht einfach aus der Märchen-Luft: Sie lässt Kosmos und Neuner an großen Werbeplakaten vorbei schlendern: "Wespentaillenfrauen in schicken Kostümen mit durchsichtigen Flügeln halten ihre Hände über braun gebrannte Männer und deren teure Autos. ›Immer da, immer nah‹ steht in grünen Buchstaben unter den Schutzengelfrauen." Genau das bringt Kosmos auf die Idee, der Königin jenes ungewöhnliche Geschäft vorzuschlagen.

Und was wird aus dem schönen Traum vom Meer und dem Strandkiosk? Hat er sich erledigt? Nein, ganz im Gegenteil, jetzt rückt er in greifbare Nähe.

Jutta Richter: Hinter dem Bahnhof liegt das Meer. Carl Hanser Verlag, München 2001, 93 S., 20,- DM, (ab 9)

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