Als Stanislaw Wielgus nach nur 43 Stunden im Amt seinen Rücktritt verkündete, reagierten die hohen Gäste, die ihn an diesem Tag eigentlich bei einem Festgottesdienst feiern sollten, höchst unterschiedlich. Sobald er mit versteinerter Miene den Rücktritt mit seiner Vergangenheit als Informant des Geheimdienstes begründete, gefiel sich Präsident Lech Kaczynski in hemmungslosem Applaus, mit dem er erst aufhörte, als er bemerkte, dass sich kaum jemand anschloss. Der Oberhirte Polens, Primas Jozef Glemp, saß zur gleichen Zeit mit ebenso versteinerter Miene auf seinem Platz, wie Wielgus sie aufgesetzt hatte, um den Zurückgetretenen anschließend in einer Predigt umso heftiger zu verteidigen: Nahezu zu Tode gehetzt worden sei der Bruder Erzbis
bischof, ein Femegericht auf der Basis von "irgendwelchen Schmierzetteln der Staatssicherheit" sei gegen Wielgus veranstaltet worden. Die Botschaft war klar: Ginge es nach Primas Glemp, wäre Wielgus im Amt.So fragwürdig Stasi-Akten als Geschichtsquellen in der Regel auch sind, im konkreten Fall gibt es laut einstimmiger Historikermeinung kaum Zweifel daran, dass der belastete Geistliche von 1973 bis 1978 mit nicht geringer Begeisterung den Sicherheitsdienst mit Nachrichten versorgte. Dass Lech Kaczynski, der in Polen seit Jahren die große Hexenjagd gegen Exkommunisten, tatsächliche und vermeintliche Agenten, Günstlinge des ehemaligen Regimes und überhaupt alle Nichtmärtyrer veranstaltet, bei Wielgus jubelte, überrascht kaum: Ein Mitläufer mehr der gerechten Strafe zugeführt. Dass aber Jozef Glemp, an sich ebenfalls ein Antikommunist strengster Observanz, mit aller Konsequenz hinter dem sündigen Hirten steht, erstaunt - und ist dennoch symptomatisch: Symptomatisch dafür, dass die "Entkommunisierung" - so nennt man in Polen das Bemühen, Personen, die in das bis 1989 herrschende Regime verstrickt waren, aus dem öffentlichen Leben zu entfernen - längst zu einem bloßen politischen Kampfmittel geworden ist. Quer durchs Land dienen Stasi-Akten vorzugsweise einem Zweck: den politischen Gegner anzupatzen beziehungsweise Freunde als Opfer darzustellen. Das kann dazu führen, dass ein und dasselbe Vergehen, wie eben informelle Mitarbeit, je nach der Person, um die es geht, einmal wie ein Kapitalverbrechen behandelt wird, ein anderes Mal der Täter aber als bedauernswertes, armes Geschöpf erscheint: als Opfer gefälschter Akten, historischer Umstände, falsch verstandener Loyalitäten - oder welche Rechtfertigung sonst am besten passt.Der Fall Wielgus illustriert das auf eine sehr nachdrückliche Weise. Obwohl der Erzbischof offenbar in vollem Bewusstsein mit dem Sicherheitsdienst kollaborierte und die Akten über ihn auch noch pikante Details über sexuelle Beziehungen zu Frauen enthalten, ist es kurioserweise vor allem der ultrakonservative Flügel der polnischen Kirche, der ihn beschützen will und gegen seinen Rücktritt protestiert. Ausgerechnet vehemente Antikommunisten, die ansonsten Landsleute, die in ihrem Leben auch nur einmal Tuchfühlung mit der früheren sozialistischen Staatsmacht hatten, am liebsten an die nächste Straßenlaterne hängen würden, verteidigen den Wielgus.Sie tun es freilich mit der ihnen eigenen perfiden Argumentation: Pater Tadeusz Rydzyk, Chef des populären, nationalistisch-katholischen Radio Maryja behauptet etwa, die Akte von Wielgus sei deshalb erst jetzt bekannt geworden, weil die "liberalen Kreise in der Kirche" diesen glaubenstreuen, prinzipienfesten Wielgus als Erzbischof von Warschau verhindern wollten. Beim Aufruhr fehlen auch antisemitische Untertöne nicht. "Wir wollen einen Polen", riefen die Verteidiger des Gestrauchelten vor dem Bischofspalast. "Die Akte von Wielgus ist eine jüdische Fälschung", empörten sich etliche Demonstranten.Abseits von Glemp und Rydzyk ist ein Teil der polnischen Kirche über den Rückzug des Erzbischofs dennoch nicht traurig. Der Ausgang der Affäre hilft, einen noch größeren moralischen Aderlass zu vermeiden. Wobei freilich zu erwähnen bleibt: die ganz spezifische Rolle des polnischen Episkopats wie der Kirche überhaupt erlaubt es nach wie vor, Fehler über Fehler zu machen, ohne davon wirklich beschädigt zu werden.Denn seit Jahren schon ist Polen nicht auf einer religiös-spirituellen Ebene katholisch, sondern auf einer folkloristischen. Was zählt, sind Bräuche, Konventionen, Traditionen, nicht der Inhalt des Glaubens an sich. Ja, erste Kommunion muss sein, und das möglichst pompös. Ja, am Sonntag sind die Kirchen zumindest auf dem Lande getreten voll. Und kaum jemand, der nicht - ebenfalls mit Pomp - kirchlich heiraten würde. Was dem polnischen Durchschnittskatholiken bei all dem wichtig erscheint, das ist die goldglänzende Herrlichkeit der Kathedralen und das Bewusststein, dass der wahre Pole in Abgrenzung zum "jüdischen Kommunisten" einfach naturgegeben katholisch ist. Was aber dieser Katholizismus über Rituale hinaus bedeutet, beschäftigt nur noch eine Minderheit.Insofern ist nicht anzunehmen, dass der Wielgus-Skandal Polens Kirche dauerhaft schadet. Für die Mehrheit der polnischen Katholiken sind Bischöfe und Kardinäle viel eher weltliche denn geistliche Fürsten - und Fürsten verzeiht man viel. Noch dazu, da ein solches Verständnis den eigenen Alltag ungemein erleichtert. Wenn sich die katholische Obrigkeit nicht an ihre moralischen Normen hält, denken sich die Schäfchen, muss ich es mit dem Verbot der Empfängnisverhütung und den tausend anderen unangenehmen Dingen auch nicht so genau nehmen.
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