Die Schuld des Opfers

Kommentar Polnische Geisel im Irak

Jetzt ist es passiert, lamentierten die Medien in Warschau überrascht, als vergangene Woche eine im Irak lebende Polin entführt wurde. Bislang, so scheint es, war man offenbar der Ansicht, den tapferen Polen könne das einfach nicht zustoßen. Eine naive Sichtweise, zugegeben - aber weit verbreitet.

Selbst Außenminister Cimoszewicz scheint sie zu seiner eigenen gemacht zu haben. Zerknirscht gab er nach der Entführung zu, dass Polens Krisenpläne "ein solches Entführungsszenario" bislang gar nicht vorgesehen hätten. Dass Cimoszewicz außerdem jegliche Gespräche mit den Entführern ausschloss, machte die Sache noch schlechter. Verhandlungen müsse man immer führen und sei es nur, um Kommandotruppen Zeit zur Vorbereitung einer Geiselbefreiung zu geben, monierten Terrorfachleute unisono.

Doch wenn Washington die Propagandaparole ausgibt, mit Terroristen wird nicht verhandelt, ist Warschau päpstlicher als der Papst und hält sich tatsächlich daran. Eine Mischung aus ostentativer Bündnistreue und völliger Tatsachenverkennung, die Polens Regierung in das Irak-Abenteuer schlittern ließ und die ihr keinen Ausweg mehr erlaubt. Geiselnahme? Kann uns nicht passieren. Verhandeln? Sorry, Mr. Bush wünscht es nicht.

Premier Marek Belka kann nur froh sein, dass sich auch das Gros der polnischen Medien als Teil der "Koalition der Willigen" begreift. In Sachen Irak wird die Linksregierung daher seltsam zart angefasst - auch von jenen, die sonst keinen einzigen ihrer tatsächlichen oder nur vermeintlichen Fehltritte übersehen.

Zu einer besonderen Künderin polnisch-amerikanischer Freundschaft ist unter diesen Vorzeichen auch die liberale Gazeta Wyborcza geworden, immer noch ein publizistisches Flaggschiff, immer noch eine Tageszeitung, die Reichweite mit Qualität zu vereinen versteht. Leider ist ihr Chef Adam Michnik, einst ein Bürgerrechtler der ersten Stunde, restlos davon überzeugt, dass im Irak die Schicksalsschlacht Aufklärung gegen Barbarei stattfindet. Dementsprechend skurril sind die Schlüsse, zu denen er kommt: Michnik, der Wegbereiter der freien Presse in Polen, verteidigt die Drangsalierung des Senders Al Jazeera im Irak. Und derselbe Michnik, der sich durch unzählige kluge Bücher als zartfühlender Moralist ausgewiesen hat, lässt es zu, dass in seiner Zeitung die im Irak entführte Frau zwar als bedauernswert, aber auch ein wenig zwielichtig beschrieben wird.

Die Entführte habe im Sog der Geheimdienste gelebt, heißt es, wegen eines Disziplinarvergehens habe sie ihren Job an der polnischen Botschaft in Bagdad verloren und mit ihrer Mutter das letzte Mal vor drei Jahren telefoniert. Dass all das nichts zur Sache tut, weiß Michnik natürlich - aber er weiß auch, dass es ein bewährter Trick ist, Grausamkeiten weniger grausam erscheinen zu lassen, wenn man dem Opfer wenigstens ein bisschen Schuld anhängt.



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