Eine Traube Journalisten steht dicht an Luisa Ortega Díaz gedrängt, Kameras und Mikrofone sind auf sie gerichtet. Als Generalstaatsanwältin Venezuelas wurde sie gerade gewaltsam daran gehindert, den Sitz ihrer Behörde zu betreten. Im Hintergrund stehen Soldaten der Nationalgarde und schirmen den Zugang zu einem Hochhaus ab. Die Szene ist unruhig, Aufnahmen davon im Internet verwackelt. Es fallen Worte wie Diktatur und Repression, jemand ruft mehrmals: „Asesino!“ Ortega Díaz spricht kurz zu den Journalisten, dann bahnt sie sich den Weg durch die Menge und steigt zusammen mit zwei Leibwächtern auf ein Motorrad. Kurze Zeit später ist sie im Straßenverkehr von Caracas verschwunden.
In den letzten Monaten ging alles sehr rasch. Anfang August wu
August wurde Ortega Díaz ihres Amtes enthoben. Ihre Konten sind gesperrt, sie darf das Land nicht mehr verlassen.Es gab Zeiten im Leben dieser Frau, die waren weniger spektakulär. Die 59-Jährige arbeitete als Rechtsprofessorin und juristische Beraterin des staatlichen Fernsehsenders. Ab 2002 wirkte sie für die Staatsanwaltschaft, deren Leitung sie 2007 übernahm. Weggefährten aus dieser Zeit beschreiben sie als „kritische Chavista“, als jemanden, der die Repräsentation des Rechtsstaates immer auch mit politischem Aktivismus kombinierte. Die Gesetzmäßigkeit der Justiz und der Prozesse, über die Ortega Díaz in ihrer Funktion wachen sollte, basierte auf einer Verfassung, die als eine der ersten Errungenschaften der Ära Hugo Chávez gilt. In ihr wurde Ende der 90er die Exekutive in Form des Präsidentenamtes gestärkt und Menschen-, Minderheiten- sowie Sozialrechte festgeschrieben. Ortega Díaz ist noch immer überzeugt von den Versprechungen des Chavismo – am 62. Geburtstag des bereits verstorbenen „Comandante“ erinnerte sie auf Twitter an eine „Lichtgestalt für wahrhaftige soziale Gerechtigkeit“.Die in der Verfassung verankerten Menschenrechte konnten sich unter Chávez in der Praxis nicht entfalten. Mal abgesehen von der De-facto-Übernahme des obersten Gerichtes durch regierungstreue Richter, wurden kritische Medien systematisch eingeschüchtert, bedroht oder ganz abgeschaltet. Pressefreiheiten wurden mit fragwürdigen Gesetzen beschnitten.Starken moralische Prinzipien und feste ÜberzeugungenAls Generalstaatsanwältin war Ortega Díaz ein Teil dieses Systems und manchmal verteidigte sie es explizit. Ein Beispiel dafür ist der Fall der Richterin Maria Lourdes Afiuni, die einen Regierungskritiker aus der Haft entließ, weil dieser nach Verstreichen einer gesetzlich festgelegten dreijährigen Frist noch immer auf seinen Prozess wartete. Chávez forderte daraufhin eine 30-jährige Haftstrafe für die Richterin, 2010 wurde sie in Untersuchungshaft genommen und später unter Hausarrest gestellt. Chávez war schon gestorben, als Ortega Díaz, auf einem UNO-Menschenrechts-Konvent 2015 (Venezuela hatte sieben Jahre lang die Teilnahme an dem Forum geschwänzt), auf den Fall Afiuni angesprochen, das Vorgehen rechtfertigte: Die Richterin sei wegen „Korruption und Amtsmissbrauch“ zu Recht verurteilt worden. Vorwürfe vonseiten der Richterin, sie wäre während der Untersuchungshaft gefoltert und sexuell misshandelt worden, bestritt Ortega Díaz kategorisch.Wie es Ortega Díaz in diesen Momenten mit ihrem Gewissen ging, lässt sich schwer einschätzen. Vieles, vor allem die Ereignisse der letzten Monate, deuten aber auf eine Frau mit starken moralischen Prinzipien und festen Überzeugungen hin. Es ist wohl keine leichte Sache, das Recht in einem System zu vertreten, an dessen Ideale man glaubt, und gleichzeitig Zeuge dabei zu werden, wie es sich vom Rechtsstaat immer weiter entfernt.Im Frühjahr 2017 nehmen die problematischen Tendenzen unter Präsident Maduro, dem von Chávez selbst gewählten Nachfolger, zu. Das von der Opposition dominierte Parlament war Maduro schon länger lästig und das dem Präsidenten loyale oberste Gericht fällt im März ein Urteil, das die Macht der Nationalversammlung stark beschneidet. Anhaltenden Protesten gegen hohe Kriminalität, Hyperinflation und Versorgungsknappheit bei Grundgütern wird immer mehr mit staatlicher Gewalt und Repression begegnet. Ortega Díaz kritisiert das in aller Öffentlichkeit, spricht von einer Krise, die Venezuela erfährt, und postet das Foto eines getöteten Demonstranten: „Kein Mensch im Land kann damit einverstanden sein.“ Sie sticht damit als bekennende Chavista hervor. Die Taten des Präsidenten sind in ihren Augen der Verrat am Erbe seines Vorgängers.Maduros Referendum für eine verfassungsgebende Versammlung, die das Parlament endgültig ausschalten soll, nennt Ortega Díaz einen Verfassungsbruch. Sie reicht Beschwerde beim obersten Gericht ein – ein symbolischer Akt. In einer Videobotschaft wendet sie sich direkt an die Bevölkerung und drückt ihre „feste Entschlossenheit“ aus, die demokratische Verfassung Venezuelas zu verteidigen.Für dieses Unterfangen nimmt sie einiges in Kauf. Nicht nur, dass sie von Regierungsmitgliedern als „ausländische Agentin“ und „Verräterin“ verunglimpft wird. Stimmen aus der Regierung fordern ihre Inhaftierung, ihre Familie erhält Droh-Nachrichten. Ortega Díaz dazu trotzig: „Das ist ein Thema, das sie mit mir besprechen sollten, nicht mit meiner Familie.“ Die Entschlossenheit und das Vertrauen in ihre Sache wirken fast schon unwirklich. Als sie im Radio auf die Gerüchte zu ihrer möglicherweise bevorstehenden Verhaftung angesprochen wird, tut sie die Informationen als unglaubwürdig ab. Sie schlafe nicht schlechter als sonst, und wenn, dann nur, weil sie „zu viel arbeite“. Sie sagt das ganz ruhig, so, als hätte sie nichts zu verlieren.Placeholder authorbio-1