Die Selbstverblendung des Westens

Im Gespräch Der Autor, Übersetzer und Orient-Kenner Stefan Weidner über den verengten Blick des Westens auf die arabische Kultur

FREITAG: Die Arabische Liga, die verantwortlich ist für den arabischen Buchmesseauftritt, hat über 200 Autoren eingeladen. Die Verantwortlichen betonen, dass "kein Autor, kein Buch oder Gedanke" ausgeschlossen werden solle. Hat man da auch die kritischen Geister eingeladen oder hat man es mit einer Versammlung von devoten Hofpoeten zu tun?
STEFAN WEIDNER: Man findet im Rahmen des arabischen Buchmesseauftritts kritische Geister ebenso wie regierungsnahe, wobei man auch in Bezug auf letztere nicht von "devoten Hofpoeten" sprechen sollte, denn dann ist man auf dem Gebiet der Polemik, nicht der sachlichen Auseinandersetzungen. Die echten devoten Hofpoeten, die es in manchen Winkeln der arabischen Welt ja tatsächlich noch gibt, werden wir auf der Messe nicht sehen, dafür Dichter (wie etwa Adonis), die in Saudi-Arabien Einreiseverbot haben und zu den schärfsten Kritikern des sunnitischen Mainstream-Islam zählen - und das, obwohl aus Saudi-Arabien viel Geld für diese Messe stammt. Wir werden unter den eingeladenen Schriftstellern mehr Weinliebhaber und Islamverächter finden als Islamverherrlicher. In Wahrheit liegt eher da das Problem: Wir bekommen nämlich nicht einen repräsentativen Querschnitt der arabischen Kultur der Gegenwart präsentiert, sondern den fortschrittlichen und kritischen Teil dieser Kultur.

Absurderweise jedoch dreht sich die Diskussion nur um die Frage, ob das alles fortschrittlich und kritisch genug sei. Hier tritt für mich die absolute Selbstverblendung des Westens zutage. Man will partout nur das präsentiert bekommen, was man selber zu sein glaubt: fortschrittlich und superkritisch. Und die arabischen Veranstalter spielen dieses Spiel mit, sie präsentieren uns nahezu ausschließlich die fortschrittliche Seite ihrer Kultur. Wir werden eben keine Hofpoeten sehen, keine Romanautoren kennen lernen, die reaktionär islamistische Erbauungsromane schreiben, keine Denker, die mit aufwändiger Geste Selbstmordattentate rechtfertigen, keine Hassprediger. Und doch sind sie es, die in der arabischen Welt den Diskurs bestimmen. Ich bedaure nicht, dass wir diese Leute nicht sehen werden. Aber wenn man auf das schaut, was die Veranstalter an modern und westlich gesinnten Geistern zusammengeschart haben, kann man nur sagen: Chapeau. Wir hingegen wollen Andersartigkeit der anderen Kultur nicht wahrhaben, weil sie uns unangenehm ist. Wir lassen uns lieber eine rosa Brille aufsetzen. Und wenn sie uns nicht rosa genug ist, dann beschweren wir uns. Das ist typisch für den westlichen Blick auf die arabische Realität. Mit einer solchen rosa Brille sind die Amerikaner in den Irak einmarschiert. Sie haben sie bis heute nicht abgesetzt und zahlen täglich teuer dafür.

Literarische Zensur und Bücherverbote sind in der arabischen Welt nach Ihrer Ansicht selten geworden. Andererseits hört man im Vorfeld der Messe von Repressalien gegen einzelne Autoren. Zwei Beispiele: Der saudiarabische Lyriker Al-Doumeini sitzt in Haft, weil er eine Petition gegen Reformen unterzeichnet hat. Ein Roman des irakischen Autors Najem Wali ist in vielen arabischen Ländern verboten worden. Zwei Ausnahmefälle?
Sicher keine Ausnahme. Dennoch ist literarische Zensur seltener, als wir uns das im Westen vorstellen, wenn wir die DDR oder das Dritte Reich als Vergleichsmaßstab nehmen, wie wir es ja instinktiv immer tun. Oft staune ich, was in der arabischen Welt alles veröffentlicht werden kann. Andererseits wundert man sich aber auch über das, was verboten wird. Zensurmaßnahmen sind meistens reine Willkürakte, aber die meisten literarischen Veröffentlichungen kommen den Zensurbehörden gar nicht unter die Augen oder sie interessieren sich nicht dafür. Dank der Vielzahl arabischer Länder, die ihre Zensurmaßnahmen nicht koordinieren, hat ein Literat viele Möglichkeiten, staatliche Verbote zu umgehen. Immer wieder werden aber auch Exempel statuiert. Al-Doumeini - auf dessen Schicksal ich übrigens als erster hingewiesen habe, sitzt nicht wegen seiner Lyrik in Haft, sondern wegen reformorientierter Zeitungsartikel. Saudi-Arabien ist Taleban plus Öl. Man muss schon sehr blauäugig sein, um von einem solchen Regime die Einhaltung von Menschenrechten zu erwarten. Solange wir mit einem solchen Regime die prächtigsten Handelsbeziehungen pflegen, könnte man die Aufregung über einen inhaftierten Schriftsteller, von dem hierzulande noch nie jemand etwas gelesen oder gehört hat, für ein hübsches Ablenkungsmanöver halten. Im Klartext: Auch wenn Al-Doumeini freikommt, ist das saudische Regime nicht besser. Deswegen soll Al-Doumeini aber trotzdem freikommen. Vielleicht gelingt das sogar. Seine Frau wird jetzt für ihn nach Frankfurt kommen. Hoffen wir nur, dass dann, wenn er frei ist, die Kritik an Saudi-Arabien nicht einfach endet.

Welche Folgen hat der demonstrative Verzicht von fünf arabischen Ländern - Libyen, Algerien, Marokko, Irak und Kuwait - auf den Messeauftritt? Ist damit die "goldene Chance", von der Amre Mussa, der Generalsekretär der Arabischen Liga, gesprochen hat, schon verspielt?
Schon die Frage scheint mir suggestiv, welcher Verzicht ist demonstrativ? Wie äußert sich dieses Demonstrative - außer im Verzicht selber? Sicher ist der Verzicht des Iraks nicht "demonstrativ", sondern hängt einfach damit zusammen, dass das Land zur Zeit andere Sorgen hat. Dass Gaddafi nicht mitmacht, verwundert nicht, stimmt aber auch niemanden traurig, hoffe ich. Was die anderen Länder betrifft, weiß ich nichts von "demonstrativen" Begründungen. Gründe, nicht teilzunehmen, gibt es für jedes Land. Fest steht gleichwohl, dass von der Liga auch Autoren derjenigen Länder eingeladen wurden, die nicht teilnehmen. Andererseits halte ich eine Nichtteilnahme für einen völlig normalen und legitimen Vorgang. Seltsam ist nur die Tendenz eines Teils der Öffentlichkeit, einen Skandal daraus zu machen. Und zweifellos ist, wenn von 22 Staaten 17 teilnehmen, eine große Repräsentativität gewährleistet. Mehr als drei Viertel, das sollte in Demokratien für eine goldene Chance reichen.

Dieser Gastlandauftritt ist schon jetzt ein Erfolg, bevor er überhaupt stattfindet. Denn alle Medien, auch wenn sie sich vorher nie mit den Arabern auseinander gesetzt haben, sind nun genau dazu gezwungen, ob sie es wollen oder nicht. Wir wissen schon jetzt viel mehr über die arabische Kultur als ohne diesen Messeschwerpunkt. Damit ist das wichtigste Ziel bereits erreicht.

Die Lyrik, sagt (nicht nur) der marokkanische Autor Tahar Ben Jelloun, ist "das zentrale Genre in der arabischen Literatur". Wie verhält sich die arabische Gegenwartslyrik zur modernen Lyrik des Westens? Zwei Autoren, die Sie übersetzt haben (Adonis, Fuad Rifka), beziehen sich interessanterweise auf Heidegger! Wodurch ist die arabische Moderne in der Lyrik gekennzeichnet?
Die heutige arabische Lyrik ist stark vom Westen beeinflusst. Aber sie wird zugleich vor dem Hintergrund einer 1.500-jährigen Lyrikgeschichte geschrieben. In dieser Zeit hat sich die arabische Sprache morphologisch und grammatikalisch nicht verändert. Sie können heute als arabischer Dichter 1500 Jahre alte Worte so benutzen wie jedes Wort aus der Tageszeitung. Es gehorcht nicht nur denselben grammatikalischen Gesetzen, auch Metrik und Reimtechnik sind dieselben, ja gehen sogar auf die vorislamische Lyrik zurück. Ein solch reiches Erbe ist das große Kapital der arabischen Dichtung heute, aber auch ihre große Bürde. Die Begegnung mit der europäischen hat dem arabischen Dichter überhaupt erst die Freiheit gegeben, sich emanzipiert zu diesem Erbe zu verhalten. Was die Araber mit Heidegger assoziieren, ist eher eine Chiffre, die sich aus den Elementen "Philosoph, der über Dichtung spricht" und "Technikkritik" zusammensetzt. Wenn man das ganze Faschismuskapitel nicht kennt oder nicht kennen will, wird Heidegger schnell eine unglaublich faszinierende Referenz.

Sie haben kürzlich von einem "Fräuleinwunder" in der arabischen Gegenwartsliteratur gesprochen. Wie ist ein solcher literarischer Triumph in einer Welt möglich, in der die Frauen vielerorts noch um die soziale und kulturelle Emanzipation kämpfen müssen? Und welche Autorinnen haben dieses "Fräuleinwunder" geschaffen?
Sie finden in den arabischen Großstädten und in bestimmten Gesellschaftsschichten arabische Frauen, die so frei und emanzipiert leben wie die meisten bei uns. Natürlich sind es nicht viele, und sie haben mit großen Widerständen zu kämpfen. Aber es gibt sie, und aus diesen selbstbewussten Frauen mit ihren spezifischen Erfahrungen rekrutieren sich die jungen und älteren arabischen Schriftstellerinnen. In der älteren Generation sind das zum Beispiel die auch auf deutsch veröffentlichten Ghada Samman, Laila Baalabaki, Hanan al-Scheikh (alle Libanon), Salwa Bakr, Nawal al-Saadawi (beide Ägypten), Sahar Khalifa (Palästina). Unter den jüngeren Miral al-Tahawi, Iman Mirsal, Mayy al-Tilmisani (alle Ägypten) oder Najwa und Huda Barakat, Iman Humaidan Junis (alle Libanon), aber auch Frauen in den Golfstaaten, wenn sie aus wohlhabender, liberaler Familie stammen und wirtschaftlich unabhängig sind, wie etwa Zabia Khamis aus den Arabischen Emiraten oder Nabila Azzubair aus dem Jemen. Die Liste ließe sich endlos verlängern. Zu all dem gehört eigentlich "nur" Durchsetzungsfähigkeit und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Vor allem letztere ist aber das Problem. Daher sind diese Frauen, leider, doch eine Ausnahme.

Das Gespräch führte Michael Braun

Stefan Weidner ist Verfasser der in diesem Herbst erschienenen Bücher Erlesener Orient. Ein Führer durch die Literaturen der islamischen Welt (Edition Selene) und Mohammedanische Versuchungen. Ein erzählter Essay (Ammann Verlag). Er lebt als Autor, Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Arabischen in Köln.


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