1983 Vor 30 Jahren entdecken Forscher den Erreger einer neuen Krankheit namens Aids. Bevor es so weit ist, wird die Suche danach zur wissenschaftlichen und politischen Farce
Die Entdecker des HI-Virus: Robert Gallo (l.) und Luc Montagnier
Foto: Win McNamee / AFP / Getty
Dem gemeinen Forschungskrimi haftet meist der Geruch menschlicher Überlegenheit an: Die Natur gebiert eine tödliche Gefahr, der Mensch sieht ihr ins Gesicht, Top-Wissenschaftler suchen unter höchstem Zeitdruck eine Lösung und finden sie. Wieder hat sich die Menschheit selbst gerettet. Die Entdeckung des Aids-Erregers, des HI-Virus, ist kein solcher Krimi. Als ein französisches und ein amerikanisches Forscherteam im Wissenschaftsjournal Science am 20. Mai 1983 zwei Arbeiten über ein neues Retrovirus publizieren, das vermutlich der dringend gesuchte Erreger einer neuen gefährlichen, tödlichen Krankheit ist, nimmt die breite Öffentlichkeit davon kaum Notiz.
Seit Jahren schon behandeln Ärzte – besonders unter Homosexuellen in San Francisco
en in San Francisco und New York – immer häufiger Patienten, die von normalerweise harmlosen Bakterien regelrecht zersetzt werden. Viele von ihnen erkranken an einer extrem seltenen Art von Hautkrebs, die eigentlich nur ältere Männer befällt und fast nie zum Tode führt, während die neuen Opfer von den Läsionen regelrecht überwuchert werden.Das Cover ist die SchubladeSelbst erste Titelgeschichten über das „mysteriöse“ Syndrom, in dem Newsweek bald „die Gesundheitsgefahr des Jahrhunderts“ erkennt, rühren wenig am Desinteresse von Öffentlichkeit und Politik. Ronald Reagan ist seit 1981 US-Präsident und seine Ignoranz gegenüber der sich entfaltenden Seuche so abwegig wie seine Haltung gegenüber Homosexuellen. Die würden „um Anerkennung und Akzeptanz für eine Lebensweise bitten, die weder die Gesellschaft dulden kann noch ich“, so Reagan, der erst 1987 erstmals offiziell über Aids spricht. In der Bundesrepublik bringt der Spiegel 1983 einen ersten Titel über die rätselhafte Homosexuellen-Seuche Aids. Das Cover ist die Schublade, es zeigt zwei nackte Männer – obwohl bereits bekannt ist, dass auch Heterosexuelle und Kinder an Aids erkranken.Doch selbst Robert Gallo vom amerikanischen National Cancer Institute zeigt sich zunächst wenig interessiert: Der US-Virologe ist Experte für eine neue Klasse von Erregern, sogenannte Retroviren, die ihr eigenes Erbgut in ein Stück DNA umschreiben und diese DNA dann in das Genom der befallenen Zelle einbauen. Gallo hat ein solches Virus entdeckt – das Humane T-lymphotrophe Virus (HTLV) – und als Erster gezeigt, dass es bei Menschen Krebs auslösen kann, indem es bestimmte Zellen des Immunsystems – sogenannte T-Zellen – befällt. Ein solches Retrovirus ist der Keim gewordene Albtraum jedes Seuchenmediziners. Übertragen wird es durch sexuelle Kontakte, Blut und während der Geburt von Mutter zu Kind. Zwischen Infektion und Erkrankung können freilich Jahre vergehen. Wenn es die Gelegenheit dazu bekommt, kann sich das Virus ausbreiten, bevor die Krankheit, die es verursacht, überhaupt erkannt wird. Es sind Eigenschaften, die ganz offenkundig auch der Erreger der vermeintlichen „Schwulenseuche“ besitzt.Nur wenige erkennen die Parallelen: Donald Francis von den Centers of Disease Control (der US-Seuchenbehörde), Myron Essex von der Harvard University, Michael Gottlieb von der University of California in Los Angeles. Sie alle glauben, dass der Aidserreger ein Retrovirus ähnlich dem HTLV oder auch einem von Katzen her bekannten Virus – dem Feline Leukemia Virus – ist. Sie gehen mit ihrer Vermutung mehrfach auf Robert Gallo zu, der schon 1981 von der Krankheit erfahren hat. Doch erst im Mai 1982 beginnt sein Labor, in Blutzellen von Aids-Patienten nach dem Erreger zu suchen.Zur gleichen Zeit hört auch Luc Montagnier, Experte für Krebsviren am berühmten Pariser Institut Pasteur, von einer „Schwulenkrankheit“. Es gibt in Frankreich seinerzeit noch wenige Aids-Patienten. Gallo wird von Kollegen gedrängt, nach dem Erreger zu fahnden. Zugleich formiert sich eine Gruppe von Ärzten und Immunologen, um die Suche zu forcieren. Ende 1982 überzeugen sie Montagnier, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wie Gallo beginnt der Virologe in den Zellen eines Patienten, den er BRU abkürzt, nach Retroviren zu fahnden. Die Arbeitsgruppen stehen in engem Kontakt und tauschen Proben ihres Testmaterials aus. Innerhalb weniger Monate – in ihrem Tempo ist die Entdeckung des Aids-Erregers tatsächlich eine fulminante Erfolgsstory – werden Gallo und Montagnier fündig. Im Mai 1983 publizieren sie ihre Ergebnisse, finden jedoch nicht den gleichen Erreger. Wie sich später zeigt, sind Gallos Patienten nicht nur mit dem Aidserreger infiziert, sondern auch mit HTLV. Der Forscher zieht daraus den falschen Schluss, dass Aids tatsächlich durch eine neue Variante „seines“ HTLV verursacht wird. Montagnier dagegen entdeckt in seinem Patienten ein Virus, das er LAV/BRU tauft, LAV für Lymphadenophatie-Assoziiertes Virus, in Anspielung auf die geschwollenen Lymphknoten des Patienten BRU. Der Franzose kann zeigen, dass sich dieses Virus von HTLV klar unterscheidet, zugleich kann er aber nicht beweisen, dass LAV/BRU wirklich Aids verursacht. Montagnier weiß zu diesem Zeitpunkt auch nicht, dass er de facto das Virus eines anderen Patienten (LAI) nachgewiesen hat, das eine Reihe von Proben kontaminiert, unter anderem solche, die an Gallos Labor geschickt werden.Nobelpreis für MedizinWas heute als Datum der Entdeckung von HIV gilt, ist deshalb weniger der klassische Eureka-Moment als vielmehr ein halb gelöstes Rätsel – und der Anfang eines weiteren unrühmlichen Kapitels in der Geschichte von Aids, nicht zuletzt in der Geschichte der Wissenschaft. Gallo weist binnen einem Jahr nach, dass das neue Virus, das wiederum sein französischer Kollege nachgewiesen hat, der gesuchte Erreger ist. Er nennt ihn HTLV-III, Montagnier besteht auf LAV – erst 1986 wird vom International Committee on Taxonomy of Viruses eingegriffen: Das Virus heißt nun Human Immunodeficiency Virus – HIV.Was allerdings den Konflikt nicht beendet: Es geht auch um das Patent auf einen Bluttest, den der tüchtige Gallo entwickelt – und zwar mithilfe von Viren aus dem Labor Montagniers, von denen Gallo glaubt, es seien seine eigenen. Die Aufklärung des Falls, in dessen Verlauf gar wegen Diebstahls gegen den Amerikaner ermittelt wird, zieht sich über ein Jahrzehnt hin. Der Streit um das Patent auf den Test geht immerhin so weit, dass sich Ronald Reagan und Frankreichs damaliger Premier Jacques Chirac 1987 während eines Gipfeltreffens damit befassen. Schließlich wird das Patent unter den „Ko-Entdeckern“ geteilt. Das Stockholmer Karolinska Institutet folgt diesem Beispiel nicht: 25 Jahre später zeichnet es Montagnier und seine wichtigste Mitarbeiterin, Françoise Barré-Sinoussi, mit dem Nobelpreis für Medizin aus.Mit Blick auf den 20. Mai 1983 stellt sich aber neben der Erwägung, ob diese Ehrung wirklich fair war, vor allem die Frage nach der gesellschaftlichen Wirkmacht von Wissenschaft. Was, wenn die Forscher, anstatt um ihre Lorbeeren zu fürchten und um Patente zu streiten, sich damals vehement an die Öffentlichkeit gewandt hätten? Dass Aids nicht an eine sexuelle Neigung, sondern an ein Virus gekoppelt ist – sprich: dass jeder diese Krankheit bekommen kann –, hätte aus dem Munde derer, die das erkannt hatten, vielleicht früher etwas bewegt.Stattdessen vergehen zwei Jahre, bis die Öffentlichkeit wach wird. Im Juli 1985 bricht der Hollywoodstar Rock Hudson in einem Pariser Hotel zusammen. Bald wird bekannt, er sei an Aids erkrankt. Keine drei Monate später ist das US-Idol tot – und Aids urplötzlich eine Krankheit, die jeden angeht. Um sie aufzuhalten, ist es längst zu spät. Als sich das Blatt wendet, sind allein in den USA bereits 12.000 Menschen an Aids erkrankt oder gestorben, hunderttausende mit HIV infiziert. Zudem hat sich der Erreger weltweit verbreitet. Was ein Drama mit glimpflichem Ausgang hätte sein können, wird zu einer Tragödie, die noch immer nicht vorbei ist.
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