Das Berliner Theatertreffen zeigt alljährlich im Mai zehn deutschsprachige Inszenierungen, die von einer Fachjury als "bemerkenswert" ausgewählt wurden. Der Streit um diese Auswahl ist so alt wie das "Gipfeltreffen" selbst: 44 Jahre.
Dimiter Gotscheff, 64, kam 1962 als Schüler aus Bulgarien in die DDR, wo sein Vater als Tierarzt arbeitete. Das Ziel, in dessen Fußstapfen zu steigen, gab er nach dem Besuch von Benno Bessons Inszenierung Der Frieden auf und verschrieb sich ganz dem Theater. 1979 ging er zurück nach Bulgarien, um 1983 endgültig nach Deutschland zu ziehen. Seither arbeitete er an allen wichtigen Bühnen und erhielt zahlreiche Preise. Im Henschel-Verlag erscheint in diesen Tagen das Buch: Das Schweigen des Theaters - der Regisseur Dimiter Gotscheff, herausgegeben von Bettina Schültke und Peter Staatsmann.
FREITAG: Zum wiederholten Mal sind Sie zum Theatertreffen eingeladen, in diesem Jahr mit dem "Tartuffe" nach Molière, einer Koproduktion der Salzburger Festspiele und des Hamburger Thalia Theaters. Welchen Stellenwert hat eine solche Einladung für Sie?
DIMITER GOTSCHEFF: Zu behaupten, dass es nichts bedeutet, wäre eine Lüge. Schließlich werden nur zehn Inszenierungen eingeladen, und darunter vertreten zu sein ist nicht unwichtig. Wichtig ist auch, dass sich Deutschland ein solches Festival überhaupt noch leistet. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass verschiedene Arbeiten und Arbeitsweisen zusammenkommen und man sie vergleichen kann. Und natürlich ist das Theatertreffen auch eine Börse, auf der Kontakte geknüpft und gepflegt werden. Man begegnet Leuten, die man lange nicht mehr gesehen hat. Wenn manche dann der Begegnung ausweichen, sagt das ja auch etwas aus.
Nicht zum Theatertreffen eingeladen sind Ihre Inszenierungen "Die Perser" und "Volpone" vom Deutschen Theater und "Das große Fressen" von der Berliner Volksbühne, die ebenfalls im Nominierungszeitraum entstanden. Führen Sie selbst eine Art Rangliste Ihrer Arbeiten?
Ein bisschen gewundert habe ich mich schon, dass es der Tartuffe geworden ist. Ich hätte eher mit den Persern gerechnet. Aber vielleicht ist das auch zu sehr meine persönliche Sicht, denn diese Arbeit ist mir schon sehr wichtig. Wir haben extrem hart daran gearbeitet und wochenlang die Textfassung von Peter Witzmann und Heiner Müller intensiv gelesen, bis die Sprache in unsere Hirne und Gedärme eingedrungen ist. Dieser Text ist ja extrem sperrig, aber mir war es wichtig, ohne Hilfsmittel auszukommen. Damit meine ich diese knalligen Theater-Effekte, zu denen man gelegentlich greift. Bei den Persern wollte ich nur mit den drei Grundkonstanten des Theaters arbeiten: den Schauspielern, der Sprache und dem Raum. Mit Mark Lammert, der das Bühnenbild gemacht hat, habe ich das erste, aber bestimmt nicht zum letzten Mal zusammengearbeitet.
"Die Perser" gehört zu einem Antikenzyklus des Deutschen Theaters. Beim Theatertreffen wird daraus aber nur die "Orestie" in der Inszenierung von Michael Thalheimer zu sehen sein.
Ich fand diesen Schwerpunkt, der ja den Titel "Anfänge" trug, sehr wichtig, und natürlich wäre es ideal gewesen, den ganzen Zyklus zu zeigen. Aber drei Inszenierungen waren der Jury wohl zu viel.
Und warum ist es ausgerechnet die "Orestie" geworden?
Das müssen sie die Jury fragen.
Ich wollte eigentlich Ihre Meinung wissen.
Mir fließt ein bisschen zu viel Theaterblut. Aber das habe ich dem Thalheimer schon gesagt.
Vor allem reduziert er die tragische antike Konstellation auf einen innerfamiliären Konflikt. Ihr "Tartuffe" macht die gegenteilige Bewegung und beschreibt am Konflikt im Hause Orgons den gesellschaftlichen Konflikt.
Das war zumindest meine Absicht, und wenn mir das gelungen ist - umso besser. Manche Kritiker meinten ja, ich hätte Molière durch den Heiner-Müller-Wolf gedreht. Aber Tartuffeals Bösewicht darzustellen, das hat mich nicht interessiert. Das wäre mir zu einfach. Hingegen wollte ich schon immer wissen, was in dieser ominösen Kassette steckt, von der im letzten Akt die Rede ist.
In der Inszenierung werden genannt: Gasprom-Aktien, Kinderpornos, Omas Lebensversicherung ...
Genau. Mein Tartuffe kommt aus der Dritten Welt in die Erste und nimmt sich seinen Teil. Ein Heuchler muss er dafür ebenso wenig sein wie ein Betrüger oder Schurke.
In dieser Hinsicht sind Tartuffe und Volpone ja enge Verwandte - die Figuren wie die Inszenierungen. Aber während "Tartuffe" zum Theatertreffen eingeladen ist, wurde "Volpone" nach nur einem Jahr vom Spielplan genommen. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Nein, noch nicht. Es heißt, dass es vom Berliner Publikum nicht richtig angenommen wurde, aber ob sich das an den Besucherzahlen festmachen lässt, muss ich noch herausbekommen. Eine Schwierigkeit war sicher, dass relativ viele Gäste mitspielen, und das muss natürlich organisiert werden.
Anders als im "Tartuffe" spielt in "Volpone" Ihr kleines "Privatensemble" mit: Margit Bendokat, Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch, die seit Jahren in fast jeder Inszenierung mitwirken.
Margit Bendokat kenne ich immerhin seit 1963, als ich bei Benno Bessons Tartuffe hospitiert habe. Die lasse ich mir von niemandem mehr nehmen.
Kontinuität spielt in Ihrer Laufbahn eine große Rolle. Trotzdem sind Sie nach Ihrem endgültigen Weggang aus Bulgarien nicht zurück in die DDR gegangen, wo Sie Abitur gemacht, studiert und Ihre ersten Theatererfahrungen gesammelt haben, sondern in die Bundesrepublik, nach Köln.
Es war mir unmöglich, zurück nach Berlin zu kommen. Es ist schwer zu beschreiben, aber es ist wie mit einer alten Geliebten, zu der man erst einmal Distanz braucht. Da kam die Einladung von Klaus Pierwoß, in Köln Heiner Müller zu inszenieren, gerade recht. Und nachdem ich die Arbeit mit der Truppe dort einmal angefangen hatte, wollte ich sie auch weiterführen.
Gleichwohl sind Sie später nicht mit Pierwoß nach Bremen gewechselt, sondern zu Leander Haußmann nach Bochum. Und als Frank Baumbauer vom Hamburger Schauspielhaus nach München ging, sind Sie ebenfalls nicht mitgegangen.
Bochum war ein Neuanfang, und München? Was habe ich in München verloren?
Hingegen gab es schon damals, also vor 1990, Stimmen, die sagten, dass Sie eigentlich fest an die Volksbühne gehören: Benno Besson, Heiner Müller, Fritz Marquardt - Ihre Lehrmeister, wenn ich so sagen darf, haben sämtlich dort gearbeitet.
Noch ist ja nicht aller Tage Abend. Und als Gast bin ich ja schon da.
Die Wichtigkeit von Heiner Müller bezieht sich sicherlich auf den Autor, die Wichtigkeit von Benno Besson auf den Regisseur. Welche Rolle spielt Fritz Marquardt?
Bei Fritz Marquardt habe ich als Assistent gearbeitet, und letztlich habe ich von ihm, glaube ich, ziemlich viel geklaut. Oder sagen wir: ziemlich viel mitgenommen. Das bezieht sich vor allem darauf, wie er die Körper der Schauspieler gesucht und inszeniert hat. Fritz´ Arbeit hatte eine ungeheure und wunderschöne Sinnlichkeit, aber auch eine große Härte.
Und eine große Strenge. Wenn ich richtig informiert bin, hat er nach Möglichkeit jede Aufführung gesehen und den Schauspielern den Marsch geblasen, wenn die Qualität der Arbeit nachließ.
Er hat sie schon sehr rangenommen.
Sitzen Sie auch jeden Abend im Theater, wenn Ihre Inszenierungen laufen?
Jeden Abend nicht, aber mein Kontakt mit den Schauspielern reißt auch nach der Premiere nicht ab. Im Moment arbeite ich gerade wieder am Tartuffe. Nicht wegen des Theatertreffens, sondern weil mir der Anfang noch nicht ganz behagt.
Benno Besson als Regie-Vorbild ...
Besson hat damals in der DDR eine völlig andere Theaterkultur reingebracht, wie Brecht sagte, das mediterrane Element: eine ungeheure Leichtigkeit, die Wichtigkeit und Präzision der Geste, und nicht zuletzt einen wunderbaren Witz.
Besson kam aus der französischen Schweiz nach Berlin. Spielt es für die Vorbildfunktion eine Rolle, dass auch für Sie Deutsch nicht die Muttersprache ist? Denn nach meinem Eindruck sind in Ihren Inszenierungen das Sinnliche und das Körperliche immer wichtiger als das Sprachliche.
Auf jeden Fall. Für mich ist zunächst einmal das Körperliche die Sprache des Theaters. Für jemanden, der so viel Heiner Müller inszeniert hat, mag das wie ein Widerspruch klingen, aber interessanterweise habe ich mit dessen Sprache überhaupt keine Schwierigkeiten. Das ist eine Fundgrube, während ich mit vielen Gegenwartsautoren und auch mit Klassikern enorme Schwierigkeiten habe. Aber die Sprache Heiner Müllers ist etwas, was direkt in meinen Körper und in meine Gedärme geht.
Nun sind Sie nicht aus dem mediterranen Raum, aber ist die Rest-Fremdheit in der deutschen Sprache eine Ursache für diese Betonung der Sinnlichkeit?
Natürlich. Ich komme ja aus einem ganz anderen Kulturraum - dem finstersten Balkan. Das ist ein sehr sinnlicher Raum, und die Begegnung der Körper mit der Natur ist viel präsenter und unmittelbarer als hier in Westeuropa. Da habe ich, nehme ich an, schon etwas mitgenommen. Natürlich hat sich inzwischen auch dort viel verändert, aber ich bin dankbar, dass ich da aufgewachsen bin.
Wenn man sich die Kritiken zum "Tartuffe" ansieht, stößt man immer wieder auf das Wort "Pessimismus", gern in Verbindung mit dem Zusatz "gewohnt". Können Sie damit etwas anfangen?
Damit kann ich wenig anfangen. Auch Müller ist ja immer vorgeworfen worden, er sei ein großer Pessimist. Bei einer Diskussion in Bulgarien hat er mal geantwortet: Ich bin doch kein Pessimist. Ich glaube doch zutiefst an den Vierten Weltkrieg. Es gab und gibt ja auch keinen Anlass zu Optimismus.
Aber müssen das wirklich Gegenbegriffe sein? Nehmen wir Ihre Inszenierung von "Das große Fressen". Ist deren überbordende Sinnlichkeit nicht zugleich ein Gegenentwurf zu diesem Dualismus - und damit eine Form der Utopie?
Da kann ich mich nur wiederholen: Gemeint war es so durchaus, und wenn es bei Ihnen so ankommt - umso besser. Der Hedonismus in dem Stoff hat mich sehr interessiert. Das große Fressen fiel in eine Art Zwischenzeit. Die einzige Stütze waren die Schauspieler - und natürlich die Vorlage, der Film, und die ungeheuer guten Schauspieler, die da mitgespielt haben. Und der Abend kommt ganz ohne Heiner Müller aus. Vorgeschlagen habe ich den Stoff, um aus der Kultur der Körper etwas zu entwickeln.
Im Zusammenhang mit Ihrer Arbeit ist mir eine zweite Formulierung begegnet, die sich nicht auf Anhieb erschließt. In diesen Tagen erscheint ein Buch über Sie, und es trägt den Titel: "Das Schweigen des Theaters". Aber dass Ihr Theater schweigt, lässt sich doch wohl kaum behaupten.
Ich kenne das Buch noch nicht, und auch, dass es diesen Titel trägt, ist mir neu. Aber ich glaube, die Formulierung stammt aus einem Brief Heiner Müllers an das Theater in Sofia, wo ich 1983 den Philoktet inszeniert habe. Der Satz steht meines Wissens irgendwo am Ende dieses Briefes. Manchmal verstehe ich, was es heißt, und manchmal verstehe ich es nicht.
Das Gespräch führte Rudolf Mast
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