FREITAG: Sie haben gerade Flüchtlingscamps in Albanien besucht. Sehen Sie sich danach veranlaßt, Ihre Kritik an der Bundesregierung, die Sie vor allem in Ihrer Bundestagsrede vom 15. April formuliert haben, zu relativieren?
GREGOR GYSI: Ich habe eigentlich nichts zu relativieren - abgesehen davon, daß Reden natürlich nie vollständig sind. Was mich gerade bezogen auf die Flüchtlinge und Vertriebenen stört, ist der Umstand, daß im militärischen Bereich organisatorisch alles funktioniert. Es gibt keinen Mangel an Geld und Technik, aber bei dem in jeder Hinsicht zu erwartenden Problem der Vertriebenen - zumal die Bundesregierung einen entsprechenden Plan von Milosevic ja seit längerem kennen will -, da gibt es enorme Schwierigkeiten und eine mangelhafte Vorbereitung. Das verstehe ich nicht, wobei meine Kritik weder Beamten noch Helfern gilt, die ungeheuer engagiert sind.
Sie haben auch mit dem albanischen Präsidenten Meidani gesprochen. Sieht sich Albanien inzwischen mehr als Konfliktpartei oder eher in vermittelnder Funktion?
Zunächst einmal muß ja Albanien die große Zahl von Vertriebenen unterstützen. Das entspricht einer Aufgabe, als ob in Deutschland plötzlich acht Millionen Flüchtlinge zu versorgen wären. Zweitens gibt es natürlich Ängste, daß das Territorium Albaniens in den Konflikt mit einbezogen wird, wogegen sich das Land kaum wehren kann, denn die Regierung läßt der NATO völlig freie Hand, ebenso der UÇK, mit allen Folgen, die das für Albanien hat.
Gibt es denn nach all den Konsultationen, die Sie in der Konfliktregion hatten, aus Ihrer Sicht derzeit noch irgendeinen Spielraum für Verhandlungen, nachdem die NATO offenbar entschlossen ist, den Luftkrieg so lange fortzusetzen, bis Jugoslawien wirtschaftlich nicht mehr lebensfähig ist?
Wenn das Kriegsziel in der bedingungslosen Kapitulation besteht - und so sieht das im Moment aus -, dann gibt es natürlich keinen Spielraum bis zur bedingungslosen Kapitulation. Wenn aber darüber nachgedacht würde, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden, dann ist meines Erachtens der Spielraum dadurch gegeben, daß man wegkommen muß von der Zuständigkeit der NATO hin zur Zuständigkeit der UNO - und zwar im Interesse sowohl der Kosovo-Albaner als auch der Beendigung dieses Krieges. Eine andere Möglichkeit gibt es eigentlich nicht. Man muß an die Stelle von Krieg wieder Politik, Diplomatie - und übrigens auch Ökonomie setzen.
Aber ein Einsatz der UNO, das liegt ja außerhalb dessen, was Präsident Milosevic momentan zugestehen will ...
Das ist völlig richtig. Und wenn Sie einen eigenen Friedensplan entwickeln und die Folge davon ist, daß einer sofort ja sagt und die andern nein, dann taugt er auch nichts. Es muß schon auf beiden Seiten weh tun, und darüber habe ich auch lange mit Milosevic gestritten. Und ich denke schon, daß es Bewegungsmöglichkeiten gibt bei einem UN-Einsatz, ohne NATO. Aber im Augenblick hat er auch zu Friedenstruppen anderer Art nein gesagt.
Wo liegt für Sie angesichts der andauernden Bombardierungen die Schmerzgrenze für Jugoslawien?
Das kann ich so natürlich nicht beurteilen, aber ich würde schon sagen, daß es doch beachtliche Reserven gibt, daß man sich auf diesen Krieg und auf seine Methoden einigermaßen eingestellt hat. Die Hoffnung der NATO, daß die Bevölkerung so unzufrieden ist und Milosevic davonjagt und dann zu einer Art Frieden kommt, die halte ich im Augenblick zumindest für trügerisch.
Haben Sie konkrete Vorstellungen über die Schritte, in denen man von der NATO zur UNO übergehen könnte?
Die habe ich schon, das Problem ist nur: Wenn man zu öffentlich darüber diskutiert, dann erledigt sich das auch schon wieder. Ich bin da in einer etwas schwierigen Situation, zumal es da durchaus Widersprüche innerhalb meiner Partei gibt. Aber ich denke schon, daß es eine Chance gäbe, diesen Weg relativ schnell zu gehen, und daß dann wirklich auch andere Länder gefragt wären. Aber das bedeutet, daß die NATO etwas akzeptiert, was sie natürlich nicht akzeptieren will, daß nämlich der Tag kommt, an dem sie - ich sage das jetzt so neutral wie möglich - ihre Zuständigkeit abgibt. Und ich glaube ja, daß einer der Gründe für den Krieg eben genau darin bestand, die Zuständigkeit der NATO für Europa abgekoppelt von der UNO zu begründen.
All dem entnehme ich, daß Sie entschlossen sind, weiter diplomatische Schritte zu unternehmen. Haben Sie denn entsprechende Drähte nach Belgrad und auch in Richtung NATO?
Meine Drähte sind in alle Richtungen eher bescheiden, das hängt auch mit meiner Stellung innerhalb dieser Gesellschaft zusammen, das heißt, ich muß mich einfach bemühen, direkt oder indirekt Vorschläge zu unterbreiten, Vermittlungen zu machen.
Planen Sie eine weitere Reise nach Jugoslawien, möglicherweise auch nach Pristina, um beispielsweise mit Rugova zu sprechen?
Das war letzte Woche sowieso geplant. Das Problem war nur, daß Belgrad unter dem Vorwand, meine Sicherheit nicht garantieren zu können, die Reise nach Pristina nicht genehmigt hat - aber es gibt Pläne. Das alles hat den Sinn, im Dialog zu bleiben und Vorschläge zu unterbreiten. Sie merken ja an dem Schicksal des Vorschlages von Außenminister Fischer - wie man auch im Detail dazu auch stehen mag -, daß die USA sich in den weiteren Verlauf nicht mehr hineinreden lassen wollen. Da ist natürlich die Frage, wie lange das alle Europäer mitmachen.
Und hatten Sie nach Ihrer Belgrad-Reise Kontakt mit dem Auswärtigen Amt?
Ich habe im Anschluß an diese besonders aggressive Debatte im Bundestag den Außenminister informiert, bevor ich nach Albanien geflogen bin.
Und wie hat Fischer reagiert?
Er hat es entgegengenommen.
Haben Sie Kontakte zur NATO oder nach Washington, da man hier wie dort ja an Ihren Sondierungen interessiert sein könnte?
Bisher nur eher zufällig. Ich habe zum Beispiel mit der US-Botschafterin in Tirana gesprochen, die sich sehr interessiert gezeigt hat. Allerdings habe ich auch festgestellt - wenn die Auskünfte, die ich bekommen habe, stimmen -, daß es zwischen der jugoslawischen Führung und der NATO nicht einmal mehr inoffizielle Kontakte gibt. Es herrscht ein großes Schweigen. Ich glaube, so etwas produziert nur noch mehr Irrtümer und eine immer krassere Zuspitzung. Das Schlimme an einem Krieg ist: Er läßt sich relativ leicht beginnen, ist aber sehr schwer zu beenden. Deshalb waren mir in Belgrad auch die Gespräche mit den Führern der beiden Kirchen - also mit dem Mufti und dem Patriarchen - so wichtig. Ich glaube, daß über die Kirchen jetzt Initiativen ergriffen werden können, zu denen die Politik nicht mehr fähig ist. Die Politik denkt jetzt viel zu stark in der Form des Gesichtsverlustes. Das ist nicht der Stil der Kirchen. Ich habe beiden gesagt, daß sie zu einer völlig veränderten Politik im Kosovo beitragen können und dazu, daß der NATO-Krieg gegen Jugoslawien beendet wird.
Das Gespräch führte Lutz Herden
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