Die Stufen knarrten noch

Dokument der Woche Laudatio von Volker Ludwig, Intendant des Berliner GRIPS Theaters, zur Verleihung der Luise-Schroeder-Medaille an die Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron

Inge Deutschkron ist als Überlebende des Nazi-Terrors bis heute unterwegs, um besonders an Schulen vor den Nachgeborenen über den Holocaust zu sprechen - sie hat die NS-Diktatur als illegal in Berlin lebendes Mädchen überstanden und dies in ihrer Biografie Ich trug den gelben Stern eindrucksvoll geschildert. Unter dem Titel Ab heute heißt du Sara steht eine Bühnenfassung seit 1989 auf dem Spielplan des GRIPS Theaters.

So war es kein Zufall, dass Intendant Volker Ludwig am 17. April die Laudatio hielt, als der 85-Jährigen die Louise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin verliehen wurde. Wir dokumentieren diese Rede leicht gekürzt.

Deutsche Ehrungen hatte sich Inge Deutschkron bis vor wenigen Jahren strikt verbeten. Das Bundesverdienstkreuz wurde ihr gleich dreimal vergeblich angetragen, das erste Mal 1972, wahrscheinlich aus Freude, weil sie Bonn für immer den Rücken kehrte. Sie wollte keinen Orden mit Hunderten alter Nazis teilen, die unter Adenauer damit bestückt worden waren und Inge das Leben am Regierungssitz unerträglich gemacht hatten.

Erst 1995 machte sie eine Ausnahme mit dem Moses-Mendelssohn-Preis zur Förderung der Toleranz gegenüber Andersdenkenden, der ihr zusammen mit dem unvergessenen Heinz Knobloch* verliehen wurde. Und 2002 ließ sie sich gern und ohne Bedenken von Klaus Wowereit den Berliner Landesverdienstorden um den Hals hängen. Den gibt es erst seit 1987 - und von ganzem Herzen Berlinerin war sie immer, ist sie immer und wird sie immer sein, seit sie als Kind mit den Eltern von Finsterwalde an den Prenzlauer Berg zog.

Heute sind wir zusammen gekommen, um Inge Deutschkron zu einer weiteren, besonders hohen Ehrung zu gratulieren. Einem Orden, der einmal jährlich vom Berliner Parlament verliehen wird, falls es sich einig ist: der Louise-Schroeder-Medaille. Passt die auch zu Inge?, fragten wie stets ihre kritischen Freunde. Für Verdienste um die Gleichstellung von Mann und Frau? Doch eher weniger. Dass es für Louise Schroeder ein Hauptthema war, ist klar. Das Frauenwahlrecht wurde schließlich erst 1919 eingeführt, im Jahr ihrer Wahl zur Reichstagsabgeordneten. Aber wenn man dann liest, mit welcher Wut Louise Schroeder als junge Genossin öffentlich protestierte, als die SPD 1914 die Kriegskredite bewilligte, wenn man erfährt, was für kämpferische, schlagfertige Reden sie hielt, wenn man sich ihr Foto als 32-jährige Abgeordnete ansieht, wie herausfordernd, kess, ja kiebig sie da aus der Wäsche kiekt, und wenn man schließlich auf der Medaillen-Rückseite liest, dass sie ihre Erfüllung besonders darin fand, die Menschen zueinander zu bringen und ihre Abneigung gegen die Diktatur zu stärken, dann scheint diese Ehrung geradezu für Inge Deutschkron erdacht worden zu sein, und man fragt sich, warum sie die nicht schon bekommen hat.

Warum gerade ich?

Inge Deutschkrons Geschichte ist bekannt. Die zwölf Jahre ihrer gestohlenen Jugend in Berlin unter den Nazis, zuletzt als versteckte Jüdin, kann und muss ich hier nicht schildern. In ihrem Buch Ich trug den gelben Stern hat sie diese Zeit mit ihrem ganzen Können als große Journalistin eindrucksvoll und lapidar beschrieben. Millionen haben das Buch gelesen - Hunderttausende konnten mit dem GRIPS-Theaterstück Ab heute heißt du Sara Inges Geschichte auf inzwischen 40 Bühnen nacherleben.

Im Buch wie im Stück gibt es einen besonders erschütternden Moment, der uns ahnen lässt, wo der Ursprung für die nie nachlassende phänomenale Energie liegt, die wir an Inge Deutschkron so bewundern. Es ist der 27. Februar 1943, der Tag der so genannten Fabrik-Aktion, an dem die letzten Berliner Juden abgeholt werden. Alle. Inge kann es aus ihrem Versteck beobachten - und fühlt sich schuldig. Als Verräterin. Ein für uns schwer zu fassendes Gefühl, von dem aber so viele Überlebende berichten. Warum gerade ich? Dieses Übrig-Bleiben muss doch irgend einen Sinn haben. Ich bin denen, deren Schicksal auch mir zugedacht war, etwas schuldig, ihnen und denen, die mir und anderen das Leben gerettet haben. Wer auch immer lässt mich am Leben, für etwas, das zu tun bleibt: Zu berichten? Zu warnen? Bis zum letzten Atemzug dafür zu kämpfen, dass sich solches Grauen nie wiederholt - ?

Im Überleben einen Sinn zu erkennen, wurde den Entkommenen des Holocaust nach dem Krieg ziemlich schwer gemacht. Sie konnten sehen, wo sie bleiben. Niemand kümmerte sich um sie. Sie störten den Verdrängungsprozess, machten die schöne "Stunde Null" zur Farce. Überhaupt hat kein deutscher Politiker je die Emigranten zur Rückkehr eingeladen. Kein Willy Brandt, kein Theo Heuss, und ein Adenauer schon gar nicht. Inges Vater wäre liebend gern nach Berlin heimgekehrt. Doch er fühlte sich zu unwillkommen. Inge dagegen wollte bald in Berlin bleiben. Sie lernte, ihre physische und geistige Freiheit zu genießen.

Sie trat der wiedererstandenen SPD bei, die sie als ihre Heimat empfand, wie sie es von ihrem Vater kannte. Sie vertraute darauf, dass nunmehr die Antifaschisten die Führungsrolle in Deutschland einnehmen und mit der Politik der Sozialdemokraten ein demokratischer Staat entstehen würde. Die Ignoranz und Taubheit der meisten Mitmenschen hielt sie für eine notgeborene Übergangserscheinung. So machte sie sich mit Eifer an den Aufbau eines anderen, besseren Deutschland auf der Grundlage der sozialistischen Ideale aus der Weimarer Zeit.

Willy Brandt schickte einen Blumenstrauß

Sie stellte fest, dass von Aufarbeitung der Vergangenheit, Gerichtsprozessen über die Täter oder einer nennenswerten Entnazifizierung kaum die Rede sein konnte. Vielmehr beherrschten alte Nazis Wirtschaft und Justiz, und in manchen Ministerien saßen mehr davon als zur Nazizeit selbst.

1960 wuchs Inges Einfluss, als sie zur Deutschlandkorrespondentin der großen israelischen Abendzeitung Maariv ernannt wurde. Sie war in Bonn als einzige Korrespondentin für Israel zuständig. Ihre Empörung über Figuren wie Globke, 80 Prozent Nazirichter am Bundesgerichtshof, Nazipensionen, die Ignoranz der katholischen Kirche in Sachen eigener Schuld, über Antisemitismus, die Leugnung von Konzentrationslagern und die wuchernde Akzeptanz einer schamlosen Verdrängungstaktik schlug sich nicht nur in ihrer journalistischen Tätigkeit nieder und machte sie in weiten Kreisen unbeliebt, besonders wenn sie immer wieder neue Namen von Tätern veröffentlichte.

Ihr erstes Buch ... denn ihrer war die Hölle. Kinder in Ghettos und Lagern, das sie 1965 nach den Erfahrungen im Auschwitz-Prozess herausbrachte, wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung mit der Begründung abgelehnt, dass es keinen Bedarf gäbe. Die Förderung jeglicher Literatur - ich zitiere - "die sich mit der Verfolgung von Juden und Andersdenkenden während der Nazizeit befasst", sollte eingestellt werden. Als 1966 Willy Brandt zur Entlassung Albert Speers aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis einen Blumenstrauß schickte, trat Inge aus der SPD aus und beantragte die israelische Staatsbürgerschaft. Als dann auch noch Sozialdemokraten aus Wahltaktik ihre Ideale opferten und mit Altnazis kungelten, als Nachfolgegruppen der 68er-Studenten den israelischen Botschafter tätlich angriffen, hat es ihr endlich gereicht. 1972 wanderte sie nach Israel aus, erneut auf der Suche nach einer Heimat.

1978 vollendete Inge Deutschkron in Tel Aviv ihre Biographie Ich trug den gelben Stern. 30 Jahre hatte sie gebraucht und wohl auch die Distanz zu Deutschland, um die Kraft aufzubringen, dieses Buch zu schreiben. 1987 lernte ich Inge bei gemeinsamen Freunden kennen. Schon der erste Eindruck war prägend: Sie war so direkt, gerade heraus, ja rotzfrech, sprach berlinerisch, liebte Pointen, war erzählfreudig und zu Späßen aufgelegt, dabei politisch links und kompromisslos - na ja, wie sie halt so ist -, dass ich sofort wusste: Mit der kommste klar, und noch am selben Abend beschloss, Ich trug den gelben Stern auf die Bühne zu bringen.

Wir teilten das Buch in über 50 Bröckchen auf, um es endlich auf 33 Bilder zu konzentrieren. Das war nur möglich, weil Inge genau wie uns daran lag, möglichst anschaulich zu vermitteln, was damals wirklich geschah. Als ich sie Ende 1987 in Tel Aviv mit einem Sack voll Fragen aufsuchte, war sie gerade als Redakteurin des Maariv pensioniert worden und erzählte von Existenzsorgen in Israel. Als ich ihr spontan vorschlug, doch nach Berlin zu ziehen, war sie dermaßen entrüstet über diese Geschmacklosigkeit, dass ich schon um den Abbruch der Beziehungen fürchtete.

Später, als sie schon eine Wohnung in Berlin hatte, verstand ich sie plötzlich: Täglich auf alte Leute zu stoßen, die früher ohne Zögern zu ihrer Ermordung beigetragen hätten, war schon ein gruseliger Gedanke. Für Inge war es Realität.

Das große Happy End von Inges Geschichte, das wir jetzt erleben, das vierte ihrer "Vier Leben", in die sie ihre Biographie aufteilt, ist so bekannt wie ihr erstes. Auch davon wäre stundenlang zu erzählen. Inge kam auf die Proben von Ab heute heißt du Sara und war erst einmal fix und fertig von dem Schock, sich selbst und ihre Eltern mit ihren Worten auf der Bühne zu erleben. Umgekehrt war Inge für die anfangs noch skeptischen Schauspieler eine Begegnung, die alles veränderte.

Die Premiere fand zehn Tage nach den Wahlen vom Januar 1989 statt, bei der die Republikaner in (West-) Berlin acht Prozent bekamen. Unser Stück war plötzlich das aktuellste der Stadt und ein gewaltiger Erfolg. Während die älteren Zuschauer betroffen an ihrer Vergangenheit kauten, waren die Jugendlichen hell empört und aufgewühlt über Inges Schicksal wie über das einer gleichaltrigen besten Freundin, die man verstecken will, weil sie plötzlich abgeschoben werden soll. So verschafften die vielen jungen Menschen im GRIPS Theater Inge nach und nach ein neues Vertrauen - in die Zukunft, in die nächste Generation und zu Berlin. Sie wurde fortwährend in Schulen eingeladen, um mehr zu erzählen und sich ausfragen zu lassen, ein ganzes Buch gibt darüber Auskunft, und sie fand sofort den richtigen Ton. Als zur Zeit der Anschläge von Rostock und Mölln Anfang der neunziger Jahre Neonazis Inge mit Briefen und Anrufen terrorisierten, waren es die Kinder und Jugendlichen, die ihr mit Hunderten von Briefen Mut zum Bleiben machten, mit: "Hier ist Ihr Zuhause", "Lassen Sie uns nicht mit diesen beschissenen Nazis allein", oder: "Haben Sie Probleme, dann wenden Sie sich an uns!".

Auch eine winzige Ehrenrettung für Berlin

Elf Bücher hat Inge bis heute geschrieben, darunter die in Romanform verfasste Geschichte Das verlorene Glück des Leo H., ihres einstigen Freundes Hauser, ein wunderbares, ein schreckliches, für mich ihr bestes Buch; dass es im Buchhandel nicht zu haben ist, ist eine Schande. Ihr Hauptkampf aber gilt den stillen Helden, jenen, die jüdischen Mitbürgern in der Nazizeit geholfen und das Leben riskiert haben und denen sie in Ich trug den gelben Stern ein Denkmal setzen wollte. Dass es Tausende von ihnen gab, und dass Inge sie wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückt, bedeutet auch für Berlin eine winzige Ehrenrettung.

1988, als sie mit mir die Orte ihrer Verstecke aufsuchte, kamen wir auch in die ehemalige Blindenwerkstatt Otto Weidt, sie stand offen, verlassen, die Stufen knarrten noch, sagte sie, genau wie damals. Heute ist es ein lebendiges Museum, Sitz ihres Fördervereins Blindes Vertrauen und künftige zentrale Gedenkstätte für die Stillen Helden.

Inge Deutschkron hat ihren lebenslangen Kampf, dem Überleben einen Sinn zu geben, längst gewonnen. Das Triumphgefühl hat obsiegt, das braune Pack, das ihr an den Kragen wollte, um über 60 Jahre überlebt zu haben. Und dennoch meint sie manchmal, erst am Anfang zu stehen, so viel bleibt noch zu tun.

Zwischentitel von der Redaktion

(*) Heinz Knobloch (1926-2003), ein Schriftsteller, der seine Bücher besonders der Geschichte Berlins und der Jüdischen Gemeinde dieser Stadt widmete. Er schrieb u. a.: Herr Moses in Berlin; Meine liebste Mathilde; Der beherzte Reviervorsteher.

Ab heute heißt du Sara. 33 Bilder aus dem Leben einer Berlinerin. Nach dem autobiographischen Bericht Ich trug den gelben Stern von Inge Deutschkron von Volker Ludwig und Detlef Michel, Musik: Hansgeorg Koch. Nächste Vorstellungen: 28. 29. Mai, jeweils 18 Uhr, 30. Mai, 19.30 Uhr im GRIPS Theater

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