Die Summe der Teile

Kehrseite II Natürlich war es kein Zufall. Jedenfalls fühlte es sich nicht so an. Es fühlte sich genau so an, als habe es nie eine andere Möglichkeit gegeben, als ...

Natürlich war es kein Zufall. Jedenfalls fühlte es sich nicht so an. Es fühlte sich genau so an, als habe es nie eine andere Möglichkeit gegeben, als dass ausgerechnet du und ausgerechnet ich zusammenfanden und eins wurden, zielgerichtet, gewollt, von langer Hand geplant. Amors Hand, sagtest du an unserem ersten Abend.

Zufall war höchstens, dass es gar nicht hier in Berlin war, wo wir uns zum ersten Mal trafen, sondern am Ende der Welt, da, wo das Land flüssig wird und das Wasser zu Sand, wo alles aufhört und anfängt im selben Moment.

Du hättest mich sofort gesehen, sagtest du. Während du umringt warst von der Reisegruppe aus Bayern, hast du mich nicht aus den Augen gelassen und auf unseren Anfang gewartet. Berlin, sagtest du. Ich drehte meinen Kopf in deine Richtung, weil ich mich angesprochen fühlte, als hättest du meinen Namen genannt. Du sahst nicht zu der stämmigen Person, die jetzt erwiderte, aha, man selbst komme aus Nürnberg. Du standest barfuß und mit hochgekrempelten Jeans neben einem Poller, den Leinenrucksack lässig über die linke Schulter gehängt, sahst mir direkt in die Augen und sagtest noch einmal, Berlin.

Man kommt erst an, wenn man unterwegs ist, sagtest du, und wir schenkten uns gegenseitig Schiffe. Der Asphaltboden war warm von der Mittagssonne, wir aßen Fischbouletten aus der Hand, tranken grünes Tuborg und blickten über das glitzernde Hafenbecken, wo die Eternity und die Liberdad zusammen mit all den anderen in den Wellen schaukelten. Unsere Leinenrucksäcke lagen hinter uns, unsere Knie berührten sich, und das bingbing bingbing der Seile an den Masten schlug den Takt unserer Herzen.

Vor der Landspitze, an der die Meere zusammenfließen, standen wir im seichten Wasser, du mit dem linken Bein in der Nordsee und mit dem rechten in der Ostsee, ich umgekehrt, und wir küssten uns. Zusammen perfekt, sagtest du, wie Eis mit heißen Kirschen.

Abends schlugen wir neben der im Sand versinkenden Kirche dein kleines rotes Zelt auf. Es sieht nicht gut aus für das Christentum, sagtest du, und dass du jetzt an einen Gott glaubtest. Seit heute glaubst du an Amor. Es wurde nicht richtig dunkel in der Nacht. Wir saßen vor deinem kleinen Zelt, und du schenktest mir die Wandelsterne. Dir gehört diese Nacht, sagtest du, dir gehört der Wind, und dir gehört dieser ganze Sand. Ich behalte das Meer, sagtest du, und zusammen gehört uns die ganze Welt.

Am nächsten Tag fuhrst du mit mir zurück nach Berlin.

Wir gingen in deine Wohnung, weil sie näher am Bahnhof lag, und ließen unsere Rucksäcke auf den Boden fallen. Am nächsten Morgen brachtest du mir Milchkaffee ans Bett. Bleib doch ganz einfach, sagtest du, du kannst das hintere Zimmer haben.

Die Stadt war aufgeheizt von den letzten Sommerwochen und glühte nach. Du sagtest niemandem, dass du wieder zurück warst, und mich erreichte niemand, weil ich bei dir war. Wir schliefen bis zum Mittag, liebten uns, bis uns der Hunger aus der Wohnung trieb, und verbrachten die Abende am See, wo wir uns abkühlten. Du strichst mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Dir gehört der Wannsee, sagtest du, dazu Havel, Spree und Landwehrkanal. Ich behalte die Brücken.

Es war so, wie du gesagt hattest. Die ganze Welt gehörte uns, und unsere Stadt war der glühende Kern, und der reichte uns aus, weil es gar nicht die Welt war, die wir wollten, sondern einander. Es war warm, und unsere Liebe war groß und mächtig und ging auf wie ein riesiger Hefeteig.

Wuchs, und warf eine kleine Blase, die an einem der ersten kühleren Tage des Spätsommers zerplatzte.

Es regnete. Der Kühlschrank war leer, und wir hatten keine Lust uns zu lieben.

Du zogst dir deine Schuhe an. Ich muss noch mal weg, sagtest du, und denk daran, der Abwasch gehört dir.

Als du zurück kommst, stolperst du im dunklen Flur über meinen Rucksack. Unsere Hände berühren sich für einen kurzen Augenblick, als du ihn mir reichst. Auf dem Weg zur Tür drehe ich mich noch einmal zu dir um.

Kreuzberg, Schöneberg, Neukölln und Charlottenburg gehören dir, sagst du. Ich behalte Friedrichshain, den Prenzlauer Berg und Mitte. Den Potsdamer Platz kannst du haben.

Nein, danke, sage ich.

Johanna Straub wurde 1970 in Hamburg geboren, sie studierte Allgemeine Rhetorik, Komparatistik und empirische Kulturwissenschaft in Tübingen. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Filmemacherin mit dem Schwerpunkt Dokumentarfilme.


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