Die Suppe haben wir uns selbst eingebrockt!

Kriminalität Jüngst erhielten Vorbehalte gegen Flüchtlinge durch eine Studie scheinbar neue Nahrung. Tatsächlich aber rechtfertigen die Ergebnisse deren aktuelle Dramatisierung nicht
Flüchtlinge im Hangar des ehemaligen Flughafens Berlin Tempelhof
Flüchtlinge im Hangar des ehemaligen Flughafens Berlin Tempelhof

Foto: Carsten Koall/Getty Images

Eine Untersuchung der Kriminologen Christian Pfeiffer, Dirk Baier und Sören Kliem zur Gewaltkriminalität von Flüchtlingen in Niedersachsen sorgte jüngst für Furore und scheint auf den ersten Blick vielen Vorbehalten gegenüber Flüchtlingen neue Nahrung zu geben.

Auf Grundlage der Polizeilichen Kriminalstatistik kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass nach jahrelangem Rückgang die Gewalttaten in Niedersachsen seit 2014 um 10,4% angestiegen seien. Das gehe einher mit dem Anstieg der Flüchtlingszahlen in den Jahren 2015 und 2016. 13,3% der aufgeklärten Gewalttaten seien den Flüchtlingen zuzurechnen, der Anstieg seit 2014 gehe deshalb fast vollständig auf ihr Konto.

Bei näherer Betrachtung bestätigt dieser zunächst dramatisch erscheinende Befund, der begierig von der Politik aufgegriffen wurde, allerdings lediglich seit langem unumstrittene kriminologische Erkenntnisse:

  • Die Polizeiliche Kriminalstatistik gibt nur ein sehr verzerrtes Bild der Kriminalitätsentwicklung wieder. Erfasst werden nur die Tatverdächtigen, nicht aber die letztlich Verurteilten. Darüber hinaus ist sie eher ein Indikator für die Schwerpunktsetzung bei polizeilichen Ermittlungen und die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung und kein Abbild der tatsächlichen Delinquenz. Beispielsweise ist die Anzeigebereitschaft gegenüber „Fremden“ größer als gegenüber Personen aus dem näheren sozialen Umfeld.
  • Männliche Gewalt- oder Sexualdelinquenz wird vor allem in der Altersgruppe zwischen 14 und 30 Jahren verübt. Gerade in dieser Altersgruppe sind Flüchtlinge in Niedersachsen mit 26,9% gegenüber 9,3% in der Durchschnittsbevölkerung deutlich überrepräsentiert.
  • Menschen, die keine Perspektiven sehen, mit legalen Mitteln ihre Bedürfnisse zu befriedigen, neigen eher dazu, ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Hinzu kommt, dass in sehr hierarchisch strukturierten Gesellschaften dem Mann eher gestattet ist, mit Gewalt zum Ziel zu gelangen.

Die Ergebnisse der Studie aus Niedersachsen sind somit nicht geeignet, die aus ihnen abgeleitete Dramatisierung der Entwicklung zu begründen. Stattdessen gilt es, bei dem letzten Punkt anzusetzen, wenn die Legalbewährung der Flüchtlinge erhöht werden soll. Junge Flüchtlinge brauchen Perspektiven, wenn sie die in Deutschland geltenden Normen akzeptieren sollen. Dazu gehören Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten auch ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, der Zusammenhalt einer Familie, die bei Problemen stützend wirken, aber auch intervenieren kann, wenn Grenzen überschritten werden, sowie Unterweisung in den Grundlagen unseres gesellschaftlichen Umgangs miteinander. Bei Flüchtlingen aus Bürgerkriegsländern mit guten Aufenthaltsperspektiven funktioniert das, wie die Studie belegt.

Mit der gegenwärtigen Abschottungs- und Abschreckungspolitik werden wir demgegenüber das Gegenteil bewirken und weiterhin das Abgleiten in eine delinquente Subkultur fördern.

Dr. Michael Alex ist Kriminologe und ehemaliger Mitarbeiter der Ruhr-Universität Bochum am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft

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Geschrieben von

Michael Alex

Psychologe und Jurist (Kriminologie), Rentner

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