Wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan seit Monaten permanent verschlechtert, wird das mit dem militärischen Widerstand der Taleban gegen die NATO-geführten ISAF-Einheiten in Verbindung gebracht. Allerdings verloren die Taleban im Mai mit Mulla Dadullah das dritte Mitglied ihres militärischen Führungsstabes innerhalb von sechs Monaten. Da Dadullah als führender "Irakisierer" galt, wird vermutet, dass nach seinem Tod moderatere Kräfte in der afghanischen Aufstandsbewegung an Einfluss gewinnen.
Während einer US-Militäraktion in der südafghanischen Provinz Helmand wurde - "unterstützt durch ISAF" und "ermöglicht durch die nationalen Sicherheitskräfte Afghanistans sowie das afghanische Volk", so im Wortlaut das ISAF-Pressebü
ISAF-Pressebüro - am 12. Mai Mulla Dadullah Akhund getötet.Zuvor starb im Dezember 2006 Mulla Muhammad Akhtar Osmani (2003 zum Nachfolger des Taleban-Führers Mulla Omar erklärt) bei einem Raketenangriff, und im Februar 2007 wurde der frühere Taleban-Verteidigungsminister Mulla Obaidullah in Pakistan verhaftet, was offizielle pakistanische Quellen allerdings weder dementieren noch bestätigen.Offiziell war Mulla Dadullah Militärkommandeur für die Provinzen Süd-Afghanistans: Kandahar, Helmand, Uruzgan und Nimruz - tatsächlich galt er als der wirksamste Feldkommandeur der Taleban und trat zuletzt vermehrt als ihr eigentlicher Sprecher auf. Offensiv suchte er den Kontakt zu afghanischen wie ausländischen Medien und ließ sich entgegen bisheriger Gebaren sogar dabei fotografieren. Ein Indiz für das wachsende Selbstbewusstsein einer Bewegung, die nach ihrem Zerfall infolge der US-Invasion vom Oktober 2001 wieder an Kohärenz gewinnt. Mittlerweile signalisiert sie glaubwürdig, sie sei in der Lage, erneut nach der Macht in Afghanistan zu greifen - eine Botschaft, die in der Bevölkerung sehr wohl verstanden wird und für Unruhe sorgt - Dadullah spielte bei dieser Konsolidierung eine wichtige Rolle.Seine Funktion übernimmt nun offenbar sein älterer Bruder Mulla Mansur Dadullah, der gerade erst im Austausch gegen einen italienischen Journalisten aus afghanischer Haft entlassen wurde. Vor wenigen Tagen war Mulla Mansiur in einem dem US-Sender ABC zugespielten Video zu sehen, als er 300 angebliche Märtyrer nach Ende ihres Kurses verabschiedete. Als sicher gilt allerdings, dass der charismatische Mulla Dadullah in seiner Außenwirkung kaum adäquat ersetzt werden kann.Kein Zugang zu Mulla OmarAn der Spitze der Taleban steht weiterhin als "Amir", sprich: Führer der Bewegung, Mulla Muhammad Omar, beraten von einem aus zehn - nach anderen Quellen zwölf - Mitgliedern bestehenden Führungsrat, der Rahbari Schura. Während sich Omar auf strategische und moralische Fragen zu konzentrieren scheint (so gab er Ende 2006 einen Verhaltenskodex für die Taleban-Kämpfer heraus, die so genannte Layha), obliegen die militärischen, politischen, finanziellen und kulturellen (inklusive Propaganda-) Angelegenheiten vier Komitees mit jeweils zwei bis drei Mitgliedern, die dem Führungsrat unterstehen, diesem aber nicht angehören müssen.Die Mitglieder des Führungsrats scheinen derzeit keinen direkten Zugang zu Mulla Omar zu haben, dessen Bewegungsspielraum offenbar stark eingeschränkt ist. Taleban-Kommandeure bestätigten, dass alle Kontakte über Mulla Obaidullah (nun verhaftet) und Mulla Baradar, den Schwager Omars, laufen - und selbst das oft nur über Boten. Die nächste Führungsebene bilden die übrigen Mitglieder des Führungsrates, inklusive der für die beiden Hauptkampfzonen - Süd- wie Südost-Afghanistan - zuständigen Regionalkommandeure. Zudem dirigieren vier regionale militärische Räte von Pakistan aus die Operationen.Dies alles scheint auf eine stark zentralisierte Führungsstruktur und eine stringente Befehlskette hinzudeuten - auf lokaler Ebene freilich bietet sich ein anderes Bild. Dort agieren kleine Gruppen von Kämpfern unter Kommandeuren, deren Zahl in die Hunderte geht und angesichts zunehmender Verluste auch stark schwanken dürfte. Nach NATO-Angaben ragen dabei etwa 30 Subkommandeure besonders hervor. Wie bereits während des anti-sowjetischen Widerstands in den achtziger Jahren erhält nur Zugang zu Logistik (Waffen, Munition, Finanzen, Camps) im Hinterland Pakistans, wer wenigstens nominell einer Organisation angehört.Die Struktur der Taleban-Bewegung lässt sich insofern als System konzentrischer Kreise beschreiben: Im Zentrum die Führung: ehemalige, ideologisch motivierte Mudschahedin-Kommandeure mit religiöser Grundausbildung (kämpfende Mullas); um sie herum ein innerer Ring aus indoktrinierten Madrassa-Schülern (die "echten Taleban") und ausländischen Jihadisten, die das Fußvolk bilden. Dazu der äußere Ring: wenig ideologisierte Kämpfer aus einzelnen, teils marginalisierten Paschtunen-Stämmen mit lokalen Loyalitäten sowie Gelegenheitskämpfer.Der Kern und der innere Ring existierten bereits, als die Taleban zwischen 1996 und 2001 an der Macht waren - der äußere Ring ist neu. Die ideologische Verbundenheit der "Mitglieder" mit dem harten Führungskern nimmt mit der Entfernung von ihm ab. Weder die Madrassa-Schüler noch die Stammeselemente haben Einfluss auf interne Entscheidungsprozesse. Der Führungsrat und die wichtigsten regionalen Räte bestehen weiter fast ausschließlich aus "historischen" Taleban-Führern, die ohne Ausnahme aus bestimmten Paschtunen-Stämmen der Provinzen Kandahar und Helmand stammen. Auf frei werdende Führungspositionen rücken - wie im Fall Dadullahs - Familienmitglieder nach. Die Kohärenz der Bewegung wird durch die starke Identifikation mit dem Führer Mulla Omar und der anti-westlichen Ideologie (Kampf der "Moslems gegen Ungläubige") garantiert, aber auch durch Terror gegen Dissidenten, tatsächliche oder vermeintliche Spione.Keine "Volksbewegung" mehrInsgesamt scheint die Annahme gerechtfertigt, dass die Command-and-Control-Kette der Taleban umso schwächer wird, je weiter die Operationsgebiete in Afghanistan von den Strukturen in Pakistan entfernt liegen und je stärker die lokalen Kämpfer in den örtlichen Stämmen verankert sind. Diese nehmen zwar Befehle und Ressourcen von der Taleban-Führung an, operieren aber im Alltag weitgehend autonom. Zudem hängt die Stärke der lokalen Kommandeure von der Zahl ihrer Kämpfer ab, deren Zahl sich nur schwer bestimmen lässt - von einer Größenordnung zwischen derzeit 1.000 bis 5.000 aktiven Taleban zu sprechen, dürfte realistisch sein.Um ihr strategisches Nahziel zu erreichen, machen die Taleban der Kabuler Regierung und ihrem ausländischen Beistand den Zugang zu einem immer größeren Teil des Territoriums streitig, sie blockieren den Wiederaufbau, sorgen für Instabilität und Unzufriedenheit, sie nutzen geschickt Fehler der internationalen Gemeinschaft, vor allem so genannte Kollateralschäden bei Militäroperationen, aber auch fehlende Transparenz und Effizienz beim Gebrauch von Hilfsgeldern.Es fällt auf, dass offene, verlustreiche Angriffe größerer Formationen vermieden werden, stattdessen Guerilla-Krieg und Terror Priorität genießen. Trotz der vielen Anschläge auf Funktionäre der Regierung, zivile Helfer wie NATO-Militärs erreichen die Taleban bei weitem nicht dieselbe Wirkung wie der Widerstand in Irak. Dabei ist die Konzentration auf Terrortaktiken ein indirektes Eingeständnis, dass sie keine "Volksbewegung" mehr sind. Ihre Führung nimmt in Kauf, von Teilen der Bevölkerung entfremdet zu sein. Gleichfalls gilt: Obwohl sie seit dem Fall ihres Regimes finanziell von al Qaida abhängig und damit ideologisch beeinflussbar sind, stellen die Taleban keine "internationalistische" Jihadi-Organisation dar, sie verfolgen allein auf ihr Land gerichtete Ziele.Derzeit kann man im Süden, in der Hälfte der Ost- und kleineren Teilen der Südost-Region durchaus vom offenem Aufstand mit zum Teil direkten Angriffen sprechen. In weiteren Teilen des Ostens, Südostens sowie Westens handelt es sich um einen "Aufstand in Wartestellung". Genauso wie in der Region um Kabul und im Westen kommt es zu sporadischen Offensivhandlungen. Im Norden und Nordosten, sowohl in paschtunischen wie nichtpaschtunischen Gebieten, existieren lokale Netzwerke sowie Schläferzellen, die sich für terroristische Aktionen bereithalten.Im April 2007 stuften die Vereinten Nationen landesweit 68 von 378 Distrikten als vollständig oder teilweise "feindselig", 82 als "unberechenbar" und 56 als "instabil" ein, die überwiegend im so genannten Paschtunen-Gürtel der afghanischen Südhälfte liegen. Kategorie 1 verweist auf eine faktische Taleban-Kontrolle, bei den beiden anderen wäre von regelmäßigen Taleban-Aktivitäten auszugehen.Die Rolle Pakistans als Hinterland für verschiedene Aufstandsgruppen ist unumstritten. Die Regierung in Islamabad weist immer wieder den Vorwurf zurück, der Geheimdienst ISI unterstütze die Taleban oder die Hezb-e Islami - eine weitere bewaffnete regierungsfeindliche Organisation. Es ist jedoch bekannt, dass in den neunziger Jahren eine Reihe formal in den Ruhestand versetzter ISI- und Armee-Offiziere die Taleban intensiv beraten haben. Einiges deutet darauf hin - diese Verbindungen bestehen fort.Sporadischer DialogGespräche mit Taleban werden von afghanischen und internationalen Akteuren seit geraumer Zeit geführt, vor allem über das "Programm zur Festigung des Friedens" der Kabuler Regierung, es lädt oppositionelle Kämpfer dazu ein, ihre Waffen niederzulegen und sich auf die Verfassung zu verpflichten; im Gegenzug dürfen sie in ihre Heimatgebiete zurückkehren und erhalten Sicherheitsgarantien, die vor einer Festnahme durch das US-Militär schützen sollen. Das Angebot wird jedoch nur unzureichend vermittelt - viele halten das für eine Amnestie.Nach wie vor lehnt das US-Militär Gespräche mit den als Terroristen qualifizierten Taleban ab. Anfang des Jahres torpedierte die amerikanische Seite einen britischen Versuch, lokale Taleban in Musa Qala (Provinz Helmand) über örtliche Stammesführer in ein Stillhalteabkommen einzubinden. Auch in der Regierung und der Gesellschaft Afghanistans artikulieren sich erhebliche Widerstände gegen Gespräche, da befürchtet wird, sie könnten auf eine Machtbeteiligung hinauslaufen. Vor einem vollständigen Abzug des ausländischen Streitkräfte lehnt aber auch die derzeitige Taleban-Führung jeglichen Dialog mit Kabul ab. In der Bewegung - und sei es als Abspaltung - fehlt eine erkennbar handlungsfähige moderate Gruppierung. Die etwa 20 früheren prominenten Taleban, die sich in Afghanistan aufhalten, ohne sich vollständig von der Bewegung zu distanzieren (darunter Ex-Außenminister Mutawakkel), sind bislang nicht bereit, als Gruppe für Gespräche zu werben, bevor ein Friedensabkommen zwischen Kabul und den Taleban geschlossen ist. Zudem ist derzeit unklar, ob diese Gruppe die Taleban-Führung wirksam beeinflussen könnte und die in der Lage wäre, etwaige Gesprächsergebnisse in den eigenen Reihen durchzusetzen. Unter diesen Umständen scheint es noch am realistischsten zu sein, zunächst "Anti-Korruptions-Taleban" auf lokaler Ebene in einen Dialog über ihre legitimen Anliegen einzubinden.Thomas Ruttig arbeitete zwischen 2000 und 2006 in Kabul für die UNO und die deutsche Botschaft. Derzeit ist er Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Dieser Artikel ist die gekürzte und bearbeitete Version einer für die SWP erstellten Analyse.Afghanistan 2001 - 2007Dezember 2001 Die Afghanistan-Konferenz in Bonn etabliert mit dem Petersberger Abkommen nach dem Sturz der Taleban eine provisorische Regierung. Zudem wird um die Stationierung einer internationalen Schutztruppe ersucht. Am 20. Dezember beschließt der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1386 die Dislozierung einer International Security Assistance Force (ISAF) nach Afghanistan "zur Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und Umgebung", wie es heißt. Juni 2002 Eine Loya Dschirga genannte Große Ratsversammlung in Kabul bestätigt die Regierung unter dem Präsidenten Hamid Karsai.August 2003 Das ISAF-Oberkommando geht vollends auf die NATO über, deren Einsatzgebiet von Kabul und Umgebung noch im Oktober 2003 auf den Norden ausgedehnt wird. Dieses wie auch alle nachfolgenden Revisionen des ISAF-Mandats ändern nichts daran, dass weiterhin parallel US-geführte Verbände unter dem Label Enduring Freedom operieren.Januar 2004 Eine weitere Loya Dschirga ratifiziert nach langen Verhandlungen eine neue Verfassung. Afghanistan wird als Islamische Republik mit präsidialem Regierungssystem definiert. Das Staatsoberhaupt wird für fünf Jahre direkt vom Volk bestimmt und darf sich einmal zur Wiederwahl stellen. Im Parlament sind keine Parteien zugelassen, die Abgeordneten werden teils direkt gewählt, teils vom Präsidenten ernannt.Oktober 2004 Hamid Karsai wird in direkter Wahl mit 55 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt, die Rechtmäßigkeit des Votums aber wegen teilweise irregulärer Bedingungen angezweifelt.September 2005 54 Prozent der Stimmberechtigten beteiligen sich an den Parlamentswahlen, die ursprünglich für Juni 2004 vorgesehen waren, aber wegen der lückenhaften Wählerregistratur mehrfach verschoben werden mussten.September 2006 Der Aktionsraum der NATO-geführten ISAF wird auch auf die Süd- und Ostprovinzen Afghanistans ausgeweitet, so dass NATO-Truppen damit faktisch auf dem gesamten Territorium Afghanistans präsent sind.März/April 2007 Durch die wiedererstarkten Taleban kommt es vorzugsweise in der Südregion wiederholt zu Gefechten mit NATO-Truppen. Durch die Entsendung von Tornado-Kampfflugzeugen wird auch die Bundeswehr erstmals in Afghanistan in operative Kampfhandlungen eingebunden.
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