DDR-Erinnerungen Vor 70 Jahren schrieb der sowjetische Autor Arkadi Gaidar seinen sozialistischen Jugend-Bestseller "Timur und sein Trupp" über eine Zeit, die voller Kriegsahnungen war
Oberst Alexandrow, Kommandeur einer Panzerabteilung, stand an der Front und hatte schon drei Monate nicht nach Hause kommen können. Nun war es Sommer. Da schickte er seinen Töchtern Olga und Shenja ein Telegramm…
So beginnt ein Klassiker: Timur und sein Trupp. Die Situation ist einfach und herzergreifend. Papa ist an der Front, eine Mutter gibt es auch nicht, Olga ist 18, Shenja 13, beide Mädchen sind allein. Und natürlich ist die Ältere von den Pflichten, die ihr aufgebürdet sind, genervt. Die Väter fehlen in vielen Familien, es treffen erste Meldungen über Gefallene ein. Trotzdem ist der Krieg noch weit weg, die Geschichte steckt, tragisch grundiert, voller positiver Energie. Es ist Sommer, die Kirschen reifen, die Kamille blüht, die Kind
lüht, die Kinder haben Ferien. Man zieht hinaus aus der heißen, staubigen Stadt Moskau in eine Vorort-Siedlung, dort nennt man die Häuser Datschen. Ganz am Ende des Buches, gleich unter der letzten Zeile, steht eine Jahreszahl: 1940.Fußball fiel aus. Wir DDR-Kinder verschlangen das Buch. Die Jahreszahl zum Schluss interessierte nicht. Wir waren verliebt. Verliebt in Kolja Kolokoltschikow, in Geika, Wassili Ladygin, Sima Simakow und die anderen Jungs. Aber vor allem in Timur, ihren Anführer. Keiner, nicht mal Tomas Mager, der sich auf dem Bolzplatz Beckenbauer rufen ließ, auch nicht Ingo Köhler, der abwechselnd als Rummenigge oder Breitner auflief, hatte noch Bock auf Fußball. Alle wollten Timurs Trupp spielen. Zunächst wurde geklärt, wer Timur sein darf, den sie im Buch auch den „Kommissar“ nennen – und wer Kwakin sein musste, „Ataman“ und Anführer der Bösen. Ingo und Tomas prügelten sich auf dem Boden des Klassenzimmers. Als sie, verdreckt und erschöpft, aus dem Kampf hervorkamen, weinten beide. Aber Ingo hielt siegreich ein Haarbüschel aus Tomas‘ Lockenschopf empor. Wo es dem fehlte, quoll Blut. Die Lehrerin erschien, sie entschied klug: Zur Strafe fürs Haare Ausreißen muss Ingo Kwakin sein, der Ataman! – Glücklicherweise wählte mich Tomas, der jetzt stolz ein Pflaster auf dem Kopf trug, in seinen Trupp, und ich durfte Gutes bei den Guten tun.Arkadi Petrowitsch Gaidar war bei ostdeutschen Kindern so populär wie bei westdeutschen vielleicht Antoine de Saint-Exupéry. Beide Autoren hatten zuvor anderes geschrieben, in Erinnerung geblieben sind sie wegen des letzten, kurz vor ihrem Tod an den Fronten erschienenen Kinderbuchs. Und so wie heute Der Kleine Prinz in keinem Bücherregal eines Waldorf-Schülers fehlen sollte, war „Timur“ ein Klassiker der sozialistischen Jugendliteratur.Keine Horde, keine BandeAnders aber als der blonde Außerirdische ist Timur eine ganz und gar irdische, bodenständige Gestalt: ein 14-Jähriger, der die langweilige Moskauer Vorstadt-Siedlung aufmischt, dunkles Haar, ein blaues ärmelloses Hemd mit einem roten Stern auf der Brust. Ein „molodjez“, ein Prachtkerl. Er hat seine Jungs wie eine Partisanentruppe organisiert. Es gibt ein Alarmsystem. Wie Kundschafter schwärmen die Steppkes aus und berichten anschließend, was sie in den Häusern erspähten: Wo wird Hilfe gebraucht? Mit einem roten Stern machen sie jene Häuser kenntlich, in denen ein Ehemann, Vater oder Sohn zur Armee eingezogen worden ist. Die nun Alleinstehenden genießen fortan Schutz und Hilfe. Ihre guten Taten leisten die Kinder nachts und heimlich. Wenn das alte Mütterchen morgens aufsteht, ist die Ziege schon gemolken und jemand hat Holz gehackt. Wenn die Milchfrau, deren Sohn zur Kavallerie einberufen wurde, ihre schweren Eimer am Brunnen füllen will, stehen sie schon da, das Wasser schwappt bis zum Rand. Timurhelfer sind flink und leise, sie wollen keinen Dank. Sie wollen dienstbar sein und gebraucht werden. Sie leisten ihren Beitrag an der Heimatfront und müssen mehr Männer sein als sie sollten.Hilfsbereitschaft ist das zentrale Thema des Buchs. Der Alltag ist keinesfalls unpolitisch. Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe werden propagiert. Schön ist es, im Kollektiv zu agieren. „Wir sind keine Horde, wir sind keine Bande, wir machen der Heimat bestimmt keine Schande! Wir wollen nur helfen in allen Sachen, als Jungkommunisten uns nützlich machen.“Eine erste deutsche Ausgabe der Erzählung erschien bereits 1947 in der Sowjetischen Besatzungszone. Das Buch wurde dann durch alle Jahre der DDR in mehreren neuen Übersetzungen immer wieder aufgelegt. Es war erfolgreich wie kaum ein zweites Kinderbuch und gab der Nachbarschaftshilfe einen Namen: Timur-Bewegung.Lese ich heute von den tollen Taten, fliegt mich, plötzlich zwischen zwei Zeilen, ein lange vergrabenes Gefühl an: schulfrei, die Eltern fort, ein langer gesetzloser Sommer. Es gelten die Regeln, die die Kinder sich selbst schufen. Es herrscht die Spannung des Bandenkriegs. Das war es, was uns, jenseits der politischen Imprägnierung, begeistert hat. Und dann ist da ein Mädchen, das es zu beschützen, vielleicht sogar zu retten gilt. Wie die Heimat.Ham’Se nich noch Altpapier?Der Sommer, in der die Geschichte spielt, ist der des Jahres 1939. Das Büchlein erschien 1940 in der Sowjetunion und wurde noch im gleichen Jahr verfilmt. Auf dem Rücken der deutschen Buchausgabe steht: „Als ihr Land vom Krieg bedroht ist, viele Männer an die Front gehen, machen sie (die Kinder) es sich zur Aufgabe, den Familien der Frontkämpfer zu helfen.“ So bleibt das Gute gut und das Richtige richtig. Man soll ja niemanden verwirren. Wir Schulkinder waren auf dem besten Weg, fleißige Timurhelfer zu werden. Da konnte der Krieg, der die Männer abrief zur Front und aus dem Leben, nur der Große Vaterländische sein. Der begann zwar erst im Sommer 41, aber da machten wir uns gar keine Gedanken. „Ham’se nicht noch Altpapier, liebe Oma, lieber Opa. Klingeling, ein Pionier steht vor ihrer Tür, ein roter!“ Tod den Faschisten – und Kohlen holen ab heute wir! Ich bin sicher, auch unsere Lehrerin ging mit traumwandlerischer Gewissheit davon aus, dass die sowjetischen Soldaten an jener Front, von der da die Rede ging, gegen Deutsche kämpften.Die Fronten des Jahres 39 verlaufen indessen anderswo. Der japanisch-sowjetische Grenzkonflikt von 1938/1939 endet am 16. September mit einem Waffenstillstand. Es geht um die Mandschurei, und über 20.000 Rotarmisten sollen in den Schlachten am Chassan-See und Chalchin Gol gefallen sein. Ab 17. September marschieren, nachdem die polnische Verteidigung durch die Wehrmacht zerschlagen und der polnische Staat zusammengebrochen ist, bekanntermaßen die Sowjets in Ostpolen ein. Die Rote Armee setzt sich in der Westukraine, dem westlichen Teil Weißrusslands und dem Gebiet um Wilno fest. Die von zwei Seiten überrollten Polen leisten kaum noch Widerstand. Dennoch haben die Rotarmisten 3.000 Opfer zu beklagen. Der Winterkrieg gegen Finnland wird, später als Timurs Sommertaten, am 30. November 1939 beginnen. Er dauert bis zum 13. März 1940, die Sowjetunion gewinnt Karelien – und verliert einige hunderttausend Männer.Das alles passte nicht so gut ins Bild. Zwar wurde der Konflikt mit den Japanern in den Geschichtsbüchern nicht totgeschwiegen wie der Einmarsch in Polen. Aber einfacher war es, davon auszugehen, dass jener Krieg, den Oberst Alexandrow und seine Genossen in jenem Timur-Sommer führten, der eine große, gerechte gegen die Deutschen war.Arkadi Petrowitsch Gaidar, der eigentlich Golikow hieß, wurde 37 Jahre alt. 1904 geboren, nahm er schon mit 14 an Kämpfen gegen die „Weißen“ teil. Als er mit 20 entlassen wurde, war er bereits Regimentskommandeur der Roten Armee. 1941 schickte ihn die Komsomolskaja Prawda als Kriegskorrespondent an die Front, zugleich war er Maschinengewehrschütze in einer Partisanenabteilung. Er fiel im Oktober 1941 in der Ukraine.So ist sein Buch, aus heutiger Sicht, voller Ahnung, und selbst die Täuschung, der wir Kinder damals aufsaßen, ist in einem tieferen Sinn keine. Kolja, Geika, Wassili, Sima Simakow, Timur, auch Shenjas Vater und Michail Kwakin und seine böse Bande – die meisten von ihnen werden wohl, wenige Jahre später bereits, in jenem Kampf, den wir vor Augen hatten, gefallen sein.
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