Die Tragödie ist, dass alle Recht haben

IM GESPRÄCH Der Filmemacher Andreas Dresen über die Langeweile am durchgeplanten Werk, seinen neuen Film "Wolke 9" und die Unkontrollierbarkeit der Liebe

FREITAG: Fangen wir am Anfang an: Wie viel - erfüllte oder unerfüllte - DEFA-Sehnsucht nach dem filmischen Bild vom Menschen steckt noch in Andreas-Dresen-Filmen?
ANDREAS DRESEN: Alles im Leben hat Folgen, auch der Zeitpunkt und der Ort, an dem man ausgebildet wird. Ich habe 1986 angefangen an der Filmhochschule, als es anfing, mit der DDR zu Ende zu gehen, und beendet habe ich mein Studium nach der Wende. Das war eine extrem aufregende und prägende Zeit. Wann hat man schon die Chance, so einen Umbruch zu erleben? Zu erleben, wie ein gesamtes Land zusammenbricht, wie sich ein ganzes System und natürlich auch das eigene Leben verändert? Diese verrückte Erfahrung prägt meine Arbeit in gewisser Weise, weil ich gerade in dieser Umbruchssituation viel über Menschen erfahren habe.

In Ihren Spielfilmen verbinden sich dokumentarische Vorgehensweisen mit dem Inszenierten. Daraus entsteht etwas, was man vielleicht einen magischen Realismus nennen könnte. Neugierde auf die realen Lebensbedingungen von Menschen und zugleich eine fast märchenhafte Poesie. Welche Rolle spielte das Dokumentarische in Ihrer Ausbildung und in Ihrer frühen Arbeit? Und was bedeutet es heute?
In meiner Ausbildung in Babelsberg habe ich nur Dokumentarfilme gemacht. Am Anfang war ich davon genervt, denn ich wollte Spielfilme machen. Stattdessen musste ich Werktätige im Betrieb filmen. Das war aber ein schöner und wichtiger Realitätsschock. Ich habe dann diese Arbeitsweise im Spielfilm übernommen, das heißt, dass ich Geschichten genau recherchiere und an der Realität überprüfe. Ich habe viele Geschenke bekommen durch die Dokumentararbeit, Geschichten, die einem am Schreibtisch nie einfallen würden. In Babelsberg bin ich sehr traditionell ausgebildet worden: Storyboarden. Wie löse ich eine Szene auf? Wie erarbeite ich sie mit Schauspielern? Das Dokumentarische wurde damals nur im Dokumentarfilmbereich gepflegt, da war eine strikte Trennung. Und das war für mich später die größte Entdeckung, dass man eine strikte Trennung zwischen Dokumentation und Spielfilm gar nicht braucht. Dann habe ich eine andere Filmkultur kennen gelernt, und damit für mich eine andere Art des Filmemachens, bei Leuten wie Ken Loach. Riff-Raff hat mich echt aus den Schuhen gehauen, diese Szene, wo das Mädchen in der Kneipe ein Lied falsch singt und der Arbeiter einschreitet, als sie ausgebuht wird. Dieser warme, liebevolle Blick auf die Leute auf der Baustelle, und was für ein anarchischer Schluss! Den Film habe ich geliebt. Diese Art der Filmtradition hat mir im damaligen Deutschland gefehlt. Ich dachte, ich mache selber Filme, die mich anfangen zu langweilen, weil ich es gewohnt war, entgegen der dokumentarischen Grundlage die Filme quasi am Reißbrett zu entwerfen und sie dann am Drehort möglichst genau umzusetzen. Ich fand meine eigenen Filme mehr und mehr langweilig, brav, berechenbar. Und ich dachte, das muss man ändern.

Und wie verändert sich dann die Arbeit mit den Schauspielern?
In diese Zeit fiel meine Theaterarbeit. Als ich zum ersten Mal am Theater inszeniert habe, dachte ich: Warum kann man das nicht auch im Film machen? Warum nicht mehr den Schauspielern vertrauen? Also weg mit dem traditionellen Weg der Herstellung, weg mit Schienen und Beleuchtung. Kamera auf die Schulter, ganze Szenen am Stück drehen und Schauspielern vertrauen. Das ging bis zur Improvisation ohne Drehbuch. Das war für mich die entscheidende Schnittstelle.

Der Regisseur wird einer unter vielen, die an einem kreativen Prozess beteiligt sind. Da könnte eine neue Filmgeschichte beginnen, die allerdings nicht gerade in der Tradition der Autorenfilme steht.
Den Autorenfilm gab es auch in Osteuropa, Filme von Wajda, Konrad Wolf und anderen. Das war für mich nicht der wichtige Punkt der Auseinandersetzung. Für mich war der entscheidende Impuls, den ich durch das westliche Kino bekommen habe: dieses Türaufstoßen zu einer aufregenden filmischen Form des Realismus, nicht naturalistisch, aber interessiert am Wahrheitsagen über Mensch und Gesellschaft.

Andreas-Dresen-Filme sind immer sehr nahe an den Menschen; man ist weit von dem entfernt, was man vor ein paar Jahrzehnten als "politische Filme" ansah. Und weit weg von dieser Geste: Wenn jemand leiden muss, dann ist die Gesellschaft schuld. Dennoch hat man das Gefühl, bei Ihnen erfährt man mehr über unsere Gesellschaft als anderswo.
Mich interessiert durchaus ein politischer Anspruch. Ich möchte etwas über Gesellschaft reflektieren in Filmen, aber nicht so, dass es sich wie ein Transparent vor die Geschichte schiebt. Den Fehler, Filme als politische Botschaftsträger zu verstehen, hat das deutsche Kino lange genug gemacht, und gerade wenn man aus dem Osten kommt, ist man da sehr empfindlich. Wenn man genau über die Figuren und die Umstände, in denen sie leben, berichtet, impliziert das immer eine Nachricht über die Welt, in der wir leben. Die Liebesgeschichte zwischen alten Leuten in Wolke 9, das ist auch ein politischer Anspruch, weil in dieser Welt alten Leuten nicht viel zugestanden wird, schon gar kein Aufbruch. Insofern war es aufregend, mich mit so einer Geschichte zu beschäftigen - in einer Welt, die ein ganz anderes Schönheitsideal predigt, als alte Körper mit Runzeln und Flecken zu zeigen.

Gleichzeitig hat das alles die Wucht einer antiken Tragödie, unausweichlich, und niemand da, den man dafür hassen könnte.
Die Tragödie liegt darin, dass alle Recht haben. Es gibt keine Lösung für das Problem. Das ist bitter, weil am Schluss jemand tot ist, aber nicht so tragisch, weil die Figuren starke Entscheidungen treffen. Die Frau wehrt sich erst gegen Aufbruch, weil die plötzliche Liebe sie in einer guten Lebenssituation trifft. Sie ist ja weder sexuell frustriert noch irgendwie unterdrückt durch ihren Mann. Aber sie kann sich nicht verweigern, sie folgt dem Impuls. Damit beginnt das Unheil. Und sie sagt die Wahrheit, weil sie ihren Mann liebt. Das spitzt die Tragödie zu.

Zu einem Zeitpunkt noch einmal neu anzufangen, an dem es unmöglich scheint, wie es so heißt, darüber wegzukommen.
Wenn man das Thema ernst nimmt, dann muss man erkennen, dass es durchaus ein Unterschied ist, ob einen so etwas mit 40 oder mit 70 trifft. Die Statistik über Suizidraten bei älteren Menschen besagt, dass der Anteil von Männern viel höher ist als der von Frauen. Frauen sind stärker verankert im Leben.

"Wolke 9" ist ein Film, der in keine der Schubladen passt, die unsere Filmkultur gerade offen stehen hat.
Ich erzähle gern nicht Genre-sauber, weil Komik und Tragik sehr oft in einer Geschichte nebeneinander Platz haben. Es gibt auch in Wolke 9 Szenen nicht ohne Komik, aber die tragischen Elemente überwiegen deutlich. Das liegt an der Geschichte selber, aber auch an der sehr archaischen Form, die wir dafür gewählt haben. Das hat zum Teil eine antike Dimension, wo Figuren wie von einer Urgewalt getroffen werden. Wie das Bild, wenn Inge im Regen schreit. Das haben wir fast zufällig gefunden: Man kann sich nicht dagegen wehren, man ist unfähig "vernünftig" zu werden, auch im Alter. Ich finde das schön, weil wir in so einer rationellen Welt leben, wo alles kontrolliert werden muss. Wir können schlecht mit Schicksal umgehen. Wir leiden alle unter einem Kontrollwahn. Zum Glück hat man noch keine Pille erfunden, die die Liebe kontrollieren kann.

Wie in vielen Ihrer Filme gibt es auch in "Wolke 9" ein musikalisches Strukturelement, eine Art Kommentar durch eine in die Handlung integrierte musikalische Begleitung. Die Szenen, in denen wir Inge bei den Chorproben sehen, sind zugleich anrührend, alltäglich, befreiend. Sie haben aber auch etwas von einem Chor in der griechischen Tragödie, einer Stimme des Schicksals.
Beim Drehen war klar, dass der Chor eine große Rolle spielen wird. Ich fand den Chor beim Drehen eine wunderbare Möglichkeit, das Geschehen zu kommentieren, sei es begleitend zum Gefühl der Hauptfigur, sei es konterkarierend. Und ich kann darüber eine feste Struktur im Leben der Figur verankern: bei allem, was sich verändert, geht sie doch jeden Mittwoch zur Chorprobe. Der Chor, das ist für sie: Alltag und Zeit vergehen lassen. Der Chor hatte viele reizvolle Funktionen. Die einzelnen Lieder haben wir aber erst in der Postproduktion der Geschichte zugeordnet. Ich habe einfach alle Lieder gefilmt und später festgestellt, dass man damit eine Menge machen kann. Auch ein Mittel, über einen Eins-zu-Eins-Realismus hinaus zu gelangen.

Das Gespräch führten Markus Metz und Georg Seeßlen

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