Die Überwältigung ist allgegenwärtig. Man kann sie am Abbau des Sozialstaates erkennen und am Ausbau des Sicherheitsstaates, an der Dauerbeschwörung des Wirtschaftswachstums als dem alleinigen Garanten von Arbeitsplätzen, an dem um sich greifenden Überleben mittels Patchwork-Biographie, an den Debatten über die Reproduktionsmedizin und an der modischen Jagd nach "Beauty" und "Wellness".
Diese Überwältigung, so eine interessante neue These, fuße auf einer "Überweltigung" des Menschen. Der wortspielerische Begriff gehört neben dem der "Entgrenzung" zu den Instrumentarien, mittels derer das Ehepaar Evelyn Hanzig-Bätzing und Werner Bätzing in seinem Buch über Erscheinungsformen der "Globalisierung" in der alltäglich
#228;glichen Lebenswelt untersucht. Die Bamberger Philosophiedozentin und der Erlangen-Nürnberger Kulturgeograph zeichnen, teilweise an Arbeiten von Julia Kristeva (Die neuen Leiden der Seele, 1994) und Richard Sennet (Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 1998) anknüpfend, historische Entwicklungen in Wirtschaft und philosophischem Denken nach, behandeln den Umgang mit Natur und urbanen Räumen, mit Geschlechterbeziehungen, Familie, Kindheit und Jugend, mit dem Körper, Gesundheit, Krankheit und Alter. So kommen sie der zunehmenden Auflösung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Außen und Innen, Arbeit und Freizeit, zwischen Norm und Erfüllungsbereitschaft in der Gegenwart auf die Spur.Deutlich wird, dass die von Politikern gern als Schicksalsmacht gedeutete "Globalisierung" nichts grundlegend Neues ist, sondern als politisch-soziales Herrschaftsprojekt mit privater Reichtumskonzentration schon ab Ende des 19. Jahrhunderts Wirtschaftsordnung, Vergesellschaftung und Lebensweise dominiert. Seit der Jahrhundertpleite des staatskommunistischen Weltsystems von 1989/1991 gibt es nun weltweit kein nennenswertes Territorium mehr, das der neoliberalen Verwertungslogik entzogen wäre. Darum greift das zweckrationale Denk- und Verhaltensmuster der grenzenlosen Machbar-, Konsumierbar- und Beherrschbarkeit immer mehr Raum, erfasst alle Lebensbereiche und auch die Identitäten, die Körper und Psychen, die kreativen Potenzen der Menschen. Das bedeute aber, so die Autoren, zugleich den Verlust sinnlicher Erfahrungen, ja selbst den "Verlust jeglicher Verlusterfahrung", die Auflösung kritisch-geschichtlichen Bewusstseins und die massenhafte "mimetische Aneignung des Bestehenden".Der vergötzte "Fortschritt" führe also nicht zum "guten und glücklichen Leben, sondern zur grenzenlosen Jagd nach noch mehr und noch besseren Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung und zur Angst, nichts verpassen zu dürfen". Für all das werde die Paarbeziehung, die Familie zur "Symptomstätte". Die Befunde unter anderem zur beziehungsgestörten "Borderline-Persönlichkeit" als einem immer weiter um sich greifenden sozialen Phänomen, zur "Identitätsdiffusion" und zur "Infantilisierung" der Erwachsenenwelt sind drastisch: "Nur vordergründig haben unsere gegenwärtigen Lebenswirklichkeiten den Bedeutungsgehalt von Freiheitsgewinn und Zuwachs an Autonomie. Zentrale Charakteristika unserer Lebenswelt wie Mobilität, Flexibilität und Vielheitsfähigkeit des Subjekts sind vielmehr Ausdruck einer Psychopathologie, die zahlenmäßig enorm an Bedeutung gewinnt." Die Autoren zeigen, dass diese heutigen Anforderungen mündigen Menschen zuwiderlaufen, ja dass diesen Anforderungen nur eine gestörte Persönlichkeit zu entsprechen vermag. Umgekehrt könne Leiden - zum Beispiel die besonders bei weiblichen Jugendlichen verbreiteten Essstörungen - gerade als eine "gesunde Reaktion auf krankmachende Lebensbedingungen" angesehen werden.Zu den Verdiensten des Autorenpaares zählen die historisch, philosophisch und psychologisch fundierte Kritik am herrschenden Konsens, an der hegemonialen Ordnung, an der Verwertungs- und Verwaltungslogik, an der Persönlichkeitsdeformation. Es betont jedoch zuversichtlich, wie einst Theodor W. Adorno, den menschlich-verantwortungsbewussten "Rest", die Hoffnung darauf, dass das jetzige Wirtschaftssystem mit seiner Verwertungslogik nie die Übermacht zu erreichen vermag: "Die Welt, die Natur, das Leben, der Mensch, die Geschichte, die Kultur usw. sind jeweils so unüberschaubar-vielfältig-chaotisch, dass sie nie restlos einem abstrakten Prinzip unterworfen werden können, und deshalb ist es prinzipiell unmöglich, dass die falschen Abstrakta jemals total dominieren werden."In einem eigentümlichen Gegensatz zur Weite und Intensität des analytischen Blicks der Autoren steht unter anderem, dass sie "radikale Antipositionen" nur bei ökologischen, religiösen oder rechtsextremen Gruppen ausmachen. Gibt es aber außer diesen wirklich keine weiteren politischen Kräfte, die den Verwertungspraktiken offensiv entgegentreten könnten? Was zunächst Not tut, ist der Kampf um neue Sozialstandards, die, unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht und Nationalität, ein würdiges Leben gewährleisten. Und da können selbst simple Umverteilungsforderungen beispielsweise gewerkschaftlicher Bewegungen die Verhältnisse zumindest stören und ihre Protagonisten verstören, ihre Repräsentationskraft schwächen. Im übrigen: "Kritik" laufe den Autoren zufolge gegenwärtig lediglich auf die "Bestätigung" der jetzigen Verhältnisse hinaus - eine Feststellung, bei der sie es belassen. Gerade hinsichtlich der untersuchten "Überweltigung" und "Entgrenzung" sowie der "beängstigenden Unbetroffenheit des Menschen über die Auflösung seiner Sozialbeziehungen" wäre aber die weit reichende Assimilations- und Manövrierfähigkeit des modernen Medienbetriebes - von der kommerziellen Mädchenzeitschrift bis zum Internet - zu kalkulieren und zu verdeutlichen. Schließlich: Die Autoren plädieren, wie einst Vertreter der Kritischen Theorie, für die "Verweigerung" als "Unterbrechung" des bewusstlos-alltäglichen Funktionierens. Würde diese aber nicht auch auf "Bestätigung" hinauslaufen? Und: Welche Möglichkeiten der "Verweigerung" hätten in diesem Konzept Unterpriviligierte, beispielsweise Hartz-IV-Betroffene?Glücklicherweise haben die Autoren selbst sich mit ihrem Buch der Gedankenarbeit zu einem zentralen sozialen Anliegen unserer Zeit nicht verweigert: der Arbeit an einem Begriff von Gesellschaftlichkeit, in der nicht ausschließlich entgrenzende und überweltigende Ware-Geld-Beziehungen die Lebenserwartungen und -chancen bestimmen.Evelyn Hanzig-Bätzing, Werner Bätzing: Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung von Fortschritt und Freiheit. Rotpunkt, Zürich 2005, 488 S., 28 EUR
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