Ein Spanier, etwa 60 Jahre alt, steigt während der Belagerung im Hotel Holiday Inn zu Sarajewo ab. Am nächsten Morgen zerstört eine Granate sein Zimmer, der Mann wird tot aufgefunden. Schon beim nächsten Besuch der Hotelverwaltung im Zimmer 435 ist die Leiche verschwunden, und auch der an der Rezeption abgegebene Paß. Nur ein schmales Notizheft voller Gedichte mit den Initialen J.G. deutet auf die Identität des Verschwundenen. Mit dem Rätsel bleiben wir eine Weile allein, bis es sich dann unverhofft doch noch löst: Der Empfangschef des Holiday Inn ist in Wahrheit ein hoch gebildeter Orientalismusforscher, der seine reichen Sprachkenntnisse in diesem Krieg an der Hotelrezeption nutzt. Er trauert über die Zerstörung der Nationalbibliothek mit
mit ihren vielen wertvollen Quellen. Da kommt ein Gast, der den Namen Ben Sidi Abu al-Fadail trägt, offenbar eine Reinkarnation oder ein Wiedergänger eines historischen Sufi-Mystikers gleichen Namens. Der gelehrte Empfangschef hätte ihn gern gesprochen, als Ersatz für die verlorenen Quellen. Als er tot gefunden wird, hofft er sich mit dem Verschwindenlassen der Leiche wenigstens den Nachlaß sichern zu können. Objekt des Vertauschungsspiels ist der spanische Kommandant der »Internationalen Vermittlungstruppen«, der, weil es sich ja bei dem Toten vermeintlich um einen Landsmann handelt, mit dem Fall betraut wird. Die Handlung entwickelt sich nicht; dafür geraten aber die Identitäten der handelnden Personen zunehmend durcheinander. »J.G.« ist nicht nur »Abu Sidi« und natürlich der Autor, sondern ein wenig auch der Kommandant.Identität und Identifizierung, so abstrakt die Begriffe auch sind, bilden das Leitmotiv des Romans von Juan Goytisolo. Der heute 68jährige J.G. gehörte zu den - vorwiegend lateinischen - Intellektuellen in Europa, die sich im bosnischen Krieg identifizierten, den Fall Sarajewo zum Fanal für die Verteidigung europäischer Werte nahmen. In den USA gesellte sich Susan Sontag zu ihnen, der der Roman auch gewidmet ist, in Deutschland niemand von Rang. Eine merkwürdige Verteilung: gerade in Deutschland war doch ein Jahrzehnt lang besonders intensiv - und für französische Ohren auch recht aufdringlich - vom Frieden die Rede gewesen. Nun, da der Krieg da war, wollten die Deutschen auf einmal nichts mehr davon hören. Nur wenn eine Intervention der Nato »drohte« - oder, aus der lateinischen Perspektive, »erhofft« werden durfte - meldeten sie sich immer zaghafter zu Wort. Vor allem in Frankreich wurde der bosnische Krieg als Angriff der Barbarei gegen die Zivilisation, des Landes gegen die Stadt, der dumpfen »ethnischen Reinheit«, der Abstammung, der primitiven Bodenverhaftung gegen die Offenheit, die Freiheit, die kulturelle Mischung verstanden. Im romantischen Deutschland kennt man diese Opposition kaum. Goytisolos Roman gibt uns Einblick in die französische Haltung. Der Roman führt die Bewegung nach, wir nähern uns dem Krieg über eine kunstvolle und abstrakte Identifikation: Der Autor wird eins mit den handelnden Figuren, und ein anonymer »Kompilator« fügt die Rahmenhandlung, die »Berichte« des Kommandanten und die Träume, die vielen verschiedenen Teile zum Roman zusammen.Im einzelnen gelingen Goytisolo einige meisterliche Nachempfindungen der Belagerung in Sarajewo. Es ist vor allem der Terror der allgegenwärtigen Kälte, an den sich jeder erinnert, der damals in Bosnien war: das ungekannte Gefühl, von tiefer äußerer und innerer Kälte getrieben zu werden und sich nirgends aufwärmen zu können. Es ist die unheimliche Ruhe über dem Schnee, die sich nach Granatexplosionen ausbreitet. Was es heißt, von einem Heckenschützen gezielt und systematisch zum Opfer erkoren zu werden, faßt Goytisolo treffend in den Mythos vom »virtuellen Feind«, der mit einem jeden zur gleichen Stunde an einem anderern Ort irgendwie auf der Welt geboren wird, der einen haßt und zu töten versucht.In einem der »Träume« wandert der Krieg von Sarajewo in das - durch Goytisolo bekannt gewordene - Viertel am Fuß des Montmartre, an der Kreuzung der Boulevards Barbès und Rochechouard. Hier, in der reinen Fiktion, werden die Charaktere auf einmal viel bunter, die Bilder viel greller und leuchtender, und auch in der sehr eleganten Übersetzung von Thomas Brovot ist der Geist des orientalischen Paris noch zu spüren. Es sind keine schönen Geschichten, die sich da abspielen: Am Montmartre entwickelt sich unter der Belagerung ein Rassismus, wie wir ihn in Sarajewo kaum kennengelernt haben. Der »Traum« von der Belagerung in Paris führt ins Zentrum der französischen Bosnien-Rezeption: Sind die Bosnier vielleicht die wirklichen, die in Sarajewo vielleicht die besseren Europäer als wir? fragte man sich. Würden wir uns mit der gleichen Würde wehren? Widerstehen sie ihrem Karadzic nicht viel tapferer als wir dem Le Pen? Wir kommen ihnen aus Trägheit, aus Gleichgültigkeit nicht zu Hilfe! Zur Strafe wird es uns irgendwann genauso ergehen!Wie jede Identifizierung beruht auch diese zum Teil auf falschen Abstraktionen. In Sarajewo kämpfte nicht Le Pen gegen die »colorés«, die Karadzics fürchteten sich nicht vor der »Vermischung«, wie die Spießer in Westeuropa. Sie kämpften vielmehr aktiv für eine nachträgliche »Entmischung«. Es ging ihnen um Macht, nicht um Identität, und der Volks- und Bürgerkrieg, den sie entfachten, war nichts als ein inszeniertes Spektakel, das man nach einfachen Regeln überall auf der Welt anzetteln könnte. Die »Multikulturalität« die in Sarajewo angeblich verteidigt wurde, war kaum mehr als ein willkommenes Argument für die muslimische Kriegspartei, die genauso um die Macht rang wie die Anführer der Serben und der Kroaten. Trotzdem haben die Deutschen keinen Grund, sich über diese schiefe Identifikation zu erheben: Ohne Mißverständnisse und Projektionen allerdings können wir uns schlecht mit Kriegsopfern irgendwo auf der Welt identifizieren; das bloße gemeinsame Menschsein reicht nicht aus, da wir ja auch nicht alle Menschen um uns herum mögen. Die Deutschen haben sich in Bosnien viel weniger identifiziert als die Franzosen, und deshalb waren sie dem Krieg gegenüber auch viel gleichgültiger - wenn sie nicht, wie es für viele gilt, bosnische Flüchtlinge persönlich kennenlernten.Vorwerfen kann man vielen »Franzosen« aber schon, daß sie aus ihrem ersten Reflex gleich ein politisches Programm gemacht haben und aus der Empörung über den Krieg gleich der Ruf nach der Intervention wurde. Das war nicht angemessen, und unfair war die Verachtung für die »Internationalen Vermittlungstruppen«, die auch Goytisolos Roman ausbreitet. Man konnte gegen den Krieg von außen viel weniger tun, als man sich das gewünscht hätte. Der Bürokratismus der Vereinten Nationen, die diplomatischen Phrasen und die Hartschädeligkeit der Berufssoldaten aus aller Welt konnten einem in Bosnien gewaltig auf die Nerven gehen, das ist wahr. Aber das Geheimnis für die Hilflosigkeit der Staatengemeinschaft waren sie nicht. Schade; Juan Goytisolo hätte in Sarajewo mehr einzelne Menschen entdecken können und uns mit ihnen bekannt machen, mehr typische Situationen schildern oder er hätte dort das Manuskript von Sarajewo, das wirkliche Drehbuch für diesen Krieg finden können. So aber zeigt er uns wieder nur das Bosnien auf den ersten Blick. Das ist für 170 Seiten etwas wenig. Vielleicht war er einfach nicht oft und nicht lange genug da. (Seine deutschen Kollegen, übrigens, sind gegen solche Fehler immun. Sie sind fast alle gar nicht erst gekommen.) Juan Goytisolo: Das Manuskript von Sarajewo. Roman. Aus dem Spanischen von Thomas Brovot. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1999. 191 Seiten, 36,- DM ?
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