USA Viele Amerikaner*innen haben das tiefsitzende Gefühl, abgehängt und ignoriert zu werden. Unabhängig vom Wahlausgang bleibt das Land gespalten, der Ausblick düster
Diese Wahl spiegelt die Realität: Die USA haben sich erneut als eine 50-50-Nation erwiesen. Die Hälfte der Amerikaner*innen unterstützte Trump. Die andere Hälfte nicht
Foto: Andrew Caballero-Reynolds/AFP/Getty Images
Nur wenige sahen kommen, wie knapp die US-Wahl ausgehen würde. Aber niemand kann behaupten, man sei nicht gewarnt gewesen. Insgesamt ähnelt die Wahl 2020 verblüffend der vor vier Jahren, die so viele überraschte. Die Überzeugung, 2020 werde sich deutlich von 2016 unterscheiden, basierte offenbar auf dem menschlichen, aber törichten Impuls, dass Hoffnung über Erfahrung triumphieren würde. Aber das, so zeigt die Wahl, funktioniert in der Politik nicht.
Vor vier Jahren wiesen, genau wie heute, die Meinungsumfragen ziemlich konstant in eine Richtung. Damals wie heute spiegelten die Wahlergebnisse nicht die Vorhersagen wider. Das ist sicher zum Teil ein Fehler der Umfragen. Umfragen haben nie die Absicht, ein falsches Ergebnis zu erzielen. Sie haben –
ein falsches Ergebnis zu erzielen. Sie haben – ebenso wie die Medien, die sie beauftragen – ein Eigeninteresse daran, richtig zu liegen. Aber manche Probleme können die Meinungsforscher nicht lösen. Etwa, dass sie nicht die richtigen Leute fragen, und dass einige der Befragten nicht die Wahrheit angeben. Oder einfach gar nichts. So lief es 2016. Und jetzt, im Jahr 2020, läuft es wieder so. Selbst wenn Joe Biden gewinnt, haben die Demokraten auf einen falschen Wahlkampf gesetzt.Biden war ein guter Kandidat, aber er führte den Wahlkampf so, als sei die Covid-19-Pandemie das entscheidende Thema. Millionen von Liberalen sahen das genauso. Doch die weißen Wähler aus der Arbeiterklasse in den Rust-Belt-Bundesstaaten und denen des nördlichen Mittleren Westens, die Trump 2016 zum Sieg verhalfen, haben ihre Meinung nicht geändert. Sie wählten Trump aus all den sehr schwerwiegenden Gründen, die 2016 schnell zu einer Konsenserklärung wurden: Sie fühlten sich ignoriert, ihre Arbeitsplätze und Gemeinschaften waren verschwunden. Sie glaubten, Andere – auch Ausländer – kämen zu gut weg. Sie wollten jemanden, der für sie spricht. Und die Demokraten schienen aufgehört zu haben, das zu tun.Übergangen, ignoriert und zurückgelassenDaran hat sich im Jahr 2020 nicht viel geändert. Zumindest nicht so viel, wie viele Demokraten es sich einredeten. Und auch die Medien. Ein zu großer Teil der Berichterstattung nahm Trump und seine Wähler*innen nicht ernst genug. Die tief sitzende Unzufriedenheit darüber, zurückgelassen, übergangen, ignoriert oder als bedauernswert abgetan zu werden, war die ganze Zeit über da, immer noch tief und immer noch prägend. Trump ging darauf ein, Biden wenig, wenn auch immerhin mehr als Hillary Clinton. Dass Trump in diesen Staaten diesmal viel stärker als vorhergesagt ankam, zeigt, dass die entscheidende Erfahrung für die Wahl nicht Corona oder der Tod von George Floyd waren. Es war die Wirtschaftslage und das dahinter liegende, anhaltende Trauma des Finanzcrashs von 2008 und die Ungleichheiten, die er mit sich brachte.Das heißt nicht, dass Covid-19 irrelevant war. Trumps rücksichtslose Nachlässigkeit angesichts der Pandemie hat Biden eindeutig zu einem guten Abschneiden verholfen, nicht zuletzt bei den Wählern, die ihn ohnehin wählen wollten. Aber Trump nutzte Covid auch zu seinem Vorteil. Seine Ansteckung mit dem Virus im Oktober beflügelte ihn zu einem starken Auftreten in den letzten Wochen des Wahlkampfs. Im Hinblick auf die öffentliche Gesundheit war das höchst rücksichtslos und unverantwortlich, politisch dagegen ungeheuer brillant. Es gab Millionen von Menschen eine Art Hoffnung, dass sie wieder ein normales Leben führen und das Virus ignorieren könnten. Rückblickend erkannten viele Medien das nicht, vielleicht weil sie es nicht glauben wollten.Auch Floyds Tod war für die Wahl nicht unbedeutend. Wenn Biden gewinnt, werden afroamerikanische Stimmen entscheidend gewesen sein. Aber die weißen Amerikaner*innen, die immer noch die Mehrheit der Wählerschaft ausmachen, haben sich erneut in spektakulärer Zahl hinter Trump versammelt, vor allem die weißen Männer. Die hispanoamerikanischen Wähler*innen, wie auch andere ethnische Minderheiten, zogen Biden vor – auch wenn Trump bei ihnen besser abschnitt als noch vor vier Jahren. Diese Wahl hat die historische Rassentrennung nicht überwunden, die Amerika in vielerlei Hinsicht von Europa unterscheidet. Sie hat die Kluft vertieft und konserviert.Toxischer NährbodenWie auch immer die Wahl letztlich ausgeht, eines war sie ganz klar nicht: der Wendepunkt, nach dem sich der Großteil der Welt und halb Amerika sehnten. Sie brachte nicht die kathartische Ablehnung Trumps, die im Sommer verlocken möglich schien. Dagegen ist sie schon jetzt ein neuer toxischer Nährboden für künftige Probleme, Streitigkeiten, Untersuchungen, Verschwörungsbehauptungen und Lügen. Es könnte – und hier weisen die modernen amerikanischen Wahlen ein Muster auf – das dritte Mal in zwanzig Jahren sein, dass die Wahlmänner am Ende das Weiße Haus an den republikanischen Kandidaten übergeben, der die Volksabstimmung verloren hat.Ich hielt Biden Wahlkampfs in vielerlei Hinsicht für geschickt: Er setzte auf seine Erfahrung und seinen Anstand, strebte langfristige Ziele an, ließ sich nicht ablenken, behielt Trump im Auge, versuchte, eine Mehrheitskoalition aufzubauen und zusammenzuhalten. Aber zu einem entscheidenden Sieg hat es nicht gereicht. Der Senat wird wahrscheinlich unter republikanischer Kontrolle bleiben. Die Demokraten haben weder im Repräsentantenhaus noch in den Bundesstaaten großen Auftrieb erhalten.Dieses Ergebnis wird für beide Seiten nachhaltige Folgen haben. Wenn Biden gewinnt, wird sich ein Teil der öffentlichen Politik in Amerika und in der Welt ändern, innerhalb der Partei hingegen wenig. Die Kritik an Bidens Alter und seiner „Big Tent“-Politik, die ein breites Spektrum in der Partei zulässt, wird bald wieder auftauchen. Der sozialistische Flügel der Demokratischen Partei wird glauben, dass ein radikalerer Kandidat es besser gemacht hätte. Sie werden sich irren, aber dieses Argument wird auf Jahre hinaus schwelen und die Wahl 2024 prägen, deren Vorbereitung bald beginnt.Sollte Trump doch noch gewinnen, wird er keine Rücksicht nehmen. Mehr noch als jetzt wird er sich beauftragt fühlen, die Vermarktung seiner Präsidentschaft auszuweiten. Mehr noch als zuvor werden sich andere Republikaner über ihre Loyalität zu Trump definieren. Und selbst wenn Trump verliert, wird der Trumpismus triumphieren. Jede Niederlage wird bestenfalls als knapp und schlimmstenfalls als unrechtmäßig dargestellt werden. Innerhalb der Partei wird es keine Denkpause geben.Diese Wahl spiegelt die Realität: Die USA haben sich erneut als eine 50-50-Nation erwiesen. Die Hälfte der Amerikaner*innen unterstützte Trump. Die andere Hälfte nicht. In dieser Hinsicht ähnelt die amerikanische Wahlsituation jener in anderen Staaten, nicht zuletzt der in Großbritannien. Die entscheidende Frage ist in allen diesen Ländern, ob die Gewinner versuchen, die Spaltung zu vertiefen oder sie zu überwinden. Wird regiert, als ob die andere Hälfte nicht existiert, oder wird ihre Existenz berücksichtigt? Auch hier weist die Hoffnung in die eine Richtung, die Erfahrung in die andere.Die Bedeutung dieser düsteren Schlussfolgerung ist nicht zu unterschätzen. Das Ergebnis der Wahlen vom November 2020 lautet: Die USA haben sich nicht von dem abgewendet, was sie 2016 taten. Sie haben Trumps Leugnung des Klimawandels nicht den Rücken gekehrt, Trumps Rassismus nicht zurückgewiesen, seinen Isolationismus nicht verschmäht, ihn nicht dafür bestraft, dass er den obersten Gerichtshof mit einer eiligen Neubesetzung kompromittiert hat, ihn nicht für seine Korruption und sein Verhalten zur Rechenschaft gezogen. Kurzum taten die US-Bürger*innen 2016 etwas sehr Schlechtes für sich und die Welt. Was auch passiert, wenn sich der Staub gelegt hat: Sie haben es 2020 ganz ähnlich wieder getan.Placeholder authorbio-1
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