RUSSISCHE ZEITUNGEN ÜBER DIE GEFECHTE IN TSCHETSCHENIEN Wird bis zum Winter die abtrünnige Republik in die Knie gezwungen oder droht ein zweiter Kaukasus-Krieg?
Premier Wladimir Putin will es unbedingt schaffen: Das russische Volk soll sich gegen einen äußeren Feind vereinen. Bis heute steht zwar nicht eindeutig fest, wer die Attentate gegen Wohnhäuser in Russland verübt hat, aber die Staatsmacht und die Medien schüren seit Wochen eine antikaukasische und anti-islamische Hysterie, die nun ihre Konsequenz in einem erneuten Waffengang gegen Tschetschenien findet. Die politische Elite ist fast ohne Ausnahme dafür. Einer der "namhaften Demokraten" und Chef des staatlichen Stromtrusts, Anatolij Tschubais, kappt Tschetschenien den Strom, da in den vergangenen Jahren keine Kopeke bezahlt worden sei, Gazprom hat bereits den Erdgashahn zugedreht. Lediglich eine Minderheit - so die Ex-Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow,
i Primakow, Sergej Stepaschin und Jegor Gaidar - warnt vor einem Bodenkrieg mit unabsehbaren Folgen. Jene Generäle, die Russlands Streitkräfte zwischen 1994 und 1996 im Kaukasus führten, basteln an einer Dolchstoßlegende, nach der seinerzeit ein angeblich greifbarer Sieg von Moskau aus vereitelt worden sei. Als Schuldige werden Jelzins Ex-Sicherheitsberater Alexander Lebed und der Finanz-Tycoon Boris Beresowskij genannt. Noch scheinen die Bedingungen für den begonnenen Feldzug recht günstig. In Dagestan hat man die bewaffneten Islamisten besiegt - was allein stört, sind die Flüchtlingstrecks, die allabendlich über die Bildschirme ziehen. Doch auch dafür haben Putin und seine Generäle eine Erklärung: "Die Zivilbevölkerung flüchtet vor dem Psycho-Terror der Freischärler. Sie rettet sich nach Russland." Über die genauen Pläne des russischen Generalstabs in Tschetschenien wird indes viel spekuliert, vor allem in den Medien - wir dokumentieren daher drei Auszüge aus Betrachtungen von tonangebenden, aber politisch normalerweise unterschiedlich orientierten Moskauer Zeitungen, aus denen sich - keinesfalls überraschend - ein gemeinsamer patriotischer, aber auch skeptischer Grundtenor herauslesen lässt.Gefangene der PolitikNesawissimaja Gaseta, 2. Oktober 1999 "Wie der Generalstab versichert, ist eine groß angelegte Militäraktion wie sie 1994 bis 1996 in Tschetschenien durchgeführt wurde, nicht geplant. (...) Verteidigungsminister Sergejew erklärt dazu, geplant sei "eine Sicherheitszone mit ausreichender Tiefe" in Tschetschenien. Von der Unmöglichkeit einer Invasion der Streitkräfte auf dem gesamten Territorium des widerspenstigen Föderationssubjekts zeugen die verfügbaren Angaben über die bislang dislozierten Truppenteile. Selbst unter Berücksichtigung eintreffender Reserven sind sie nicht ausreichend. Nach inoffiziellen Angaben beabsichtigt die Armee, die am linken Ufer des Terek (*) gelegenen Rayons von Terroristen "zu befreien" und dort die föderale Macht (**) zu installieren. Die Bevölkerung des in der Ebene gelegenen Gebietes ist traditionell prorussisch eingestellt. Man darf aber vermuten, dass die militärische Führung die Öffentlichkeit möglicherweise täuscht, um unerwartete Schläge gegen Tschetschenien führen zu können. Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass die Generalität erneut zum Gefangenen der großen Politik wird. Um zu siegen und großes Blutvergießen zu vermeiden, brauchen die Kampfoffiziere dringend eine Pause und damit Zeit, um zu klären, wie die Operationen ablaufen sollen. Andererseits drängt das Wetter zur Eile. Die Luftwaffe hat wegen des im Nordkaukasus bevorstehenden Nebels nur sechs Wochen Zeit, effektiv zu arbeiten. Ilja Kedrow, Andrej Korbut Neueste Waffen bestelltKommersant, 2. Oktober 1999 Nach dem im Generalstab ausgearbeiteten Plan ist eine Besetzung des gesamten tschetschenischen Territoriums nicht vorgesehen. Es ist anzunehmen, dass die Streitkräfte in die Rayons einrücken, die an das Territorium des Gebiets Stawropol, Inguschetiens und Dagestans grenzen, - insgesamt sollen acht Rayons Tschetscheniens unter die volle oder partielle Kontrolle der Armee kommen. Im Generalstab prognostiziert man, dass im Norden Tschetscheniens kein ernsthafter Widerstand zu erwarten sei, sich die Tschetschenen statt dessen auf die Verteidigung der größten Städte Grosny, Gudermes, Argun, Schali konzentrieren werden. Aber gegen diese Bastionen wird die Armee nicht vorrücken. Wenn sie ihre endgültigen Positionen einnimmt und das von den Islamisten kontrollierte Terrain auf ein Minimum zusammengepresst ist, wird dort eine starke Verteidigungslinie aufgebaut. (...) Danach werden Luftwaffe und Artillerie gegen die Rebellen in Städten, Dörfern und in den Bergen systematische Schläge führen. "Es wird geschossen, sobald wir das kleinste Gewimmel bemerken", heißt es im Generalstab. - Im Interesse der Effektivität des Raketen-, Bomben- und Artillerie-Einsatzes hat im übrigen das Verteidigungsministerium bei der Industrie die neuesten Waffen bestellt. Die Generalität rechnet damit, dass sich die tschetschenischen Verbände nach der Zerstörung eines Großteils der Elektrizitätswerke, Fabriken, Brücken und Dämme und der Vernichtung gut ausgerüsteter Basislager im Winter unter "unerträglichen" Bedingungen befinden werden. Alla Barachowa, Ilja Bulawinow Aufschlussreicher Vergleich mit "Operation Wüstensturm"Obschaja Gaseta, 3. Oktober 1999 In der "tschetschenischen Frage" sind heute alle Parteien, alle Strukturen und Abteilungen der Macht, das Volk und die Intelligenz, solidarisch. Erschüttert durch die barbarischen Terrorakte ist das Land bereit, jede beliebige Vergeltungsaktion zu billigen ... Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass unsere Macht diesen gesellschaftlichen Konsens als Rechtfertigung für eine volle Handlungsfreiheit gegenüber Tschetschenien betrachtet. Die Verführung ist groß - sich zu mäßigen ist sehr schwer. Ehrlich gesagt, es gibt keine Gewissheit, dass sich die Regierung zurückhält und wir nicht zweimal in ein- und denselben Krieg ziehen. Der Krieg, der dort irgendwo weit unten im Süden donnert, interessiert unsere Elite vor allem als starke propagandistische Karte im Wahlkampf. Man kann sich vorstellen, welche "Einheit des politischen Willens" Parteien und Presse in dem Moment demonstrieren werden, da sich unsere militärische Führung desorientiert zeigen sollte. Während des eineinhalb Monate dauernden Kampfes in den kleinen, isolierten Gebieten Dagestans wurden mehr als 250 Soldaten der föderalen Streitkräfte getötet und 800 verletzt. Das übersteigt die Verluste der anti-irakischen Koalition während der Operation Wüstensturm um das Dreifache. Damals hatten die alliierten Streitkräfte einen okkupierten Staat befreit und die eineinhalb Millionen Mann starke Armee von Saddam Hussein geschlagen. In Russland hingegen ist die Finanzierung des Verteidigungsministeriums buchstäblich zusammengebrochen, in drei Jahren wurde die Armee um ein Drittel verringert und das Militärbudget um die Hälfte. Es wurde fast keine neue Militärtechnik gekauft und die alte nicht erneuert. Jetzt starren wir gebannt auf die Frontlinie: Die bewaffneten Kräfte Tschetscheniens wurden seit 1996 wesentlich stärker, weil viel Geld - besonders aus dem Ausland - in sie investiert wurde. Wir lieben es, Maschadows Streitkräfte als "Banden-Formation" zu bezeichnen, aber das ist ein rein moralisches Urteil. Vom militärischen Standpunkt aus gesehen haben die Tschetschenen eine professionelle, gut ausgerüstete, hervorragend ausgebildete, gut bezahlte separatistische Armee. Die Feldkommandeure befehligen jetzt zwanzig- bis dreißigtausend "reguläre" Soldaten, aber diese Zahl kann sich schnell vergrößern, sollten alle Männer und Heranwachsenden mobilisiert werden. Wenn wir wollen, dass es in Tschetschenien eine gesunde Gesellschaft gibt, dass dort verantwortungsvolle Politiker regieren, wäre es am besten, das den Tschetschenen selbst zu überlassen." Aleksej Arbatow (*) Fluss in Tschetschenien (**) Gemeint ist eine pro-russische Administration Übersetzung: Ulrich Heyden, Moskau
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