»Bonn ist nicht Weimar!« Wer hätte sie nicht schon gehört, diese stereotype Beschwichtigungsformel, die jedesmal dann rezitiert wird, wenn irgend etwas in der neudeutschen Demokratie schiefläuft, Ausländerheime und -wohnungen brennen, Mitbürger anderer Hautfarbe mißhandelt werden, Neonazis marschieren, jüdische Gräber schänden oder Schlägertrupps in Berliner S-Bahnwagen sogenannte »national befreite Zonen« schaffen. Die Versicherung, da handele es sich wohl um Einzeltäter, ertönt ebenso zwangsläufig wie das nahezu protokollarische Abgrenzungsritual von »Weimar«, als in Sachsen-Anhalt die DVU 15 Prozent der Wähler gewann.
Daß es eine Verfassung ist, gegenüber der man sich abgrenzt, d
bgrenzt, das scheint dabei offenbar nicht bedacht zu werden. »Weimar«, das ist vielmehr ein Synonym für das Scheitern von Demokratie in einem Lande, das nunmehr überzeugt ist, im sicheren Besitz »der besten aller deutschen Verfassungen« sich unter dem Namen des Regierungssitzes »Bonn« als Inbegriff des Gelingens von Demokratie darstellen zu können.Mehreres ist merkwürdig an dieser Philosophie und ihrem Sprachgebrauch. Einmal, daß das, was in meiner von der Naziterminologie, der Lingua tertii imperii, Klemperers LTI, dominierten Jugend »Systemzeit« genannt und damit als schlechthin verwerflich deklariert wurde, nach 1945 durch den Namen einer Verfassung gekennzeichnet, aber auch damit gewissermaßen als Gegenbeispiel abgewertet werden soll. Es war kein Geringerer als der erste Bundespräsident Theodor Heuss, der einen wichtigen Beitrag zu diesem Negativurteil über »Weimar« geleistet hat, nach dem die von der Weimarer Reichsverfassung ermöglichten Volksentscheide die Hauptschuld an der Schwächung des Parlamentarismus und damit der repräsentativen Demokratie in Deutschland trügen.Aber auch jenseits dieser Heuss'schen Lehrmeinung gibt es weitere Schuldzuweisungen an die Adresse der deutschen Verfassung von 1919. Das durch keine Sperrklausel eingegrenzte Verhältniswahlrecht habe zur Zersplitterung der Parteienlandschaft beigetragen und damit die Aktionsmöglichkeiten der großen Volksparteien eingeengt.Und schließlich seien es die im Artikel 48 der Weimarer Verfassung enthaltenen Sonderkompetenzen des Reichspräsidenten gewesen, die Hitler den Weg zur Macht und zur Außerkraftsetzung der Verfassung mittels des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933 geöffnet hätten.Es bleibt bis heute unerfindlich, was Heuss zu der Meinung veranlaßte, die Volksentscheide der Jahre 1926 und 1928, deren letzter in der Tat von Hitler mitinitiiert war, die aber beide scheiterten, hätten Wesentliches zur Destabilisierung der Nachkriegsrepublik beigetragen. Und wieso ist es Schuld der Verfassung, wenn das Parteienspektrum ausfranst, weil mehrheitsfähige Meinungsbildungen nicht zustandekommen? Oder war es etwa die Verfassung, die den Reichspräsidenten Hindenburg zwang, den rechtskräftig vorbestraften Putschisten Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler zu berufen?Nein - die Abwertung von »Weimar« muß andere Gründe haben als die offenkundig unbegründeten Behauptungen über die Rolle beim politischen Emporkommen des Nationalsozialismus. Ein wirklich begründetes Urteil kann nur angesichts des Weimarer Verfassungstextes selbst gewonnen werden.Prüft man den Wortlaut der einschlägigen Artikel, so wird man nicht ohne Erstaunen feststellen, daß die dort niedergelegten Regelungen weithin dem entsprechen, was heute von allen gefordert wird, die angesichts der offenkundigen Funktionsschwächen und -grenzen der repräsentativen Demokratie über deren Ergänzung durch Elemente direkter Demokratie nachdenken. Denn die Weimarer Verfassung hat Volksbegehren und Volksentscheid als integrierenden Bestandteil der Reichsgesetzgebung verfassungsrechtlich abgesichert (Art. 73 - 76 Weimarer Verfassung).Danach kann ein Volksentscheid durch Volksbegehren, das von einem Zehntel aller Stimmberechtigten unterstützt werden muß, gefordert werden. Gegenstand eines solchen muß ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf sein, der von der Regierung dem Reichstag zur Beschlußfassung vorzulegen ist (Art. 73 Abs. 3 WRV). Ein Volksentscheid kann auch durch den Reichspräsidenten über ein vom Reichstag schon beschlossenes Gesetz veranlaßt werden (Art. 73 Abs. 1 WRV), wobei sogar der Haushaltsplan, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen Gegenstand einer solchen vom Reichspräsidenten angeordneten Abstimmung werden können (Art. 73 Abs. 4 WRV), also Dinge, die in gegenwärtigen Verfassungen häufig vom Volksentscheid ausdrücklich ausgenommen werden! Selbst für einen Gesetzeskonflikt zwischen Reichsrat und Reichstag ist eine Vermittlung durch Volksentscheid vorgesehen (Art. 74 Abs. 3 WRV)! Ist es nicht geradezu lächerlich, die Behauptung aufzustellen, die Weimarer Demokratie sei am exzessiven Gebrauch dieser plebiszitären Verfahren zugrundegegangen?Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine neuerliche Lektüre des Artikels 48, jenes Artikels, der die Ausnahmekompetenzen des Reichspräsidenten formuliert. Kein Zweifel, dieses ist die eigentlich kritische Stelle der Weimarer Reichsverfassung, weil sie eine Ermächtigung zur Außerkraftsetzung von Grundrechten enthält, die man nicht anders als bedenklich bezeichnen kann. Andererseits stellt Absatz 3 des gleichen Artikels fest, daß der Reichstag die Ausnahmeregelungen des Präsidenten außer Kraft setzen kann. Also auch den Sonderkompetenzen des Präsidenten stehen Autorität und Kontrolle des Parlamentes gegenüber. Freilich setzt das dessen Beschluß- und Handlungsfähigkeit voraus. Aber darf man es der Verfassung vorwerfen, wenn diese versagen?Was den Buchstaben und Text der herkömmlichen Weise angegriffenen Weimarer Regelungen angeht, so kann diese Kritik nur in aller Form als unbegründet zurückgewiesen werden. Sind es dann aber etwa Geist und Tendenz dieser Verfassung im Ganzen, die als demokratiegefährdend oder zumindest als Begünstigung demokratiefeindlicher Bestrebungen beurteilt werden müßten?Der Geist einer Verfassung läßt sich besonders deutlich an ihrer Präambel ablesen. So auch im Falle der Weimarer, die in ihrer Kürze, Nüchternheit und Präzision klassisch genannt zu werden verdient: »Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.«Der Klarheit dieser Zielsetzungen entspricht die Durchsichtigkeit des Aufbaus dieser Verfassung. Regelt der erste Teil Aufbau und Aufgaben des Reiches, so der zweite die Grundrechte seiner Bürger und Bürgerinnen, ausgehend vom Prinzip der Rechtsgleichheit, von dem schon im zweiten Satz klargestellt wird, daß er sich auf Männer und Frauen in gleicher Weise erstreckt.Wer diese Systematik beargwöhnt, die die Grundrechte der Staatsorganisation nachordnet, weil er sie an der heute üblichen Priorität der Grundrechte mißt, der auch das Grundgesetz folgt, sei daran erinnert, daß sich hier die historische Tatsache spiegelt, daß es der demokratische Nationalstaat war, der in Europa die ersten Grundrechtskataloge ins Verfassungsrecht einbrachte. Auch die Paulskirchenverfassung von 1849 ordnet die Grundrechte des deutschen Volkes dem Aufbau der Reichsinstitutionen und -kompetenzen nach.Studiert man aber die Weimarer Grundrechtsartikel im einzelnen, so wird man der inhaltlichen Klarheit, mit der sie als Rechte des einzelnen Staatsbürgers beziehungsweise der Staatsbürgerin formuliert sind, und der Konsistenz ihres Aufbaus vom Einzelnen über die verschiedenen Ebenen der Gemeinschaftlichkeit - von der Familie über Religionsgemeinschaften, Bildungswesen und Wirtschaftsleben - nur höchste Anerkennung zollen können. Wo zum Beispiel stünde eine bessere Formulierung für das Verhältnis von Marktfreiheit und Gerechtigkeit als in Art. 151 WRV: »Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern.« Wäre zum Beispiel Art. 155 WRV über Verteilung und Nutzung des Bodens der Eigentumsgesetzgebung im Verlaufe des deutschen Einigungsprozesses zugrundegelegt worden, hätte es zu den krassen Benachteiligungen der Bevölkerung in der ehemaligen DDR nie kommen können, bis hin zu jenen skandalösen Sonderkonzessionen für westdeutsche Plünderer von Bodenschätzen, wie sie von der De-Maizière-Regierung in den Einigungsvertrag geschmuggelt worden sind! Und selbst die weitgehend ins Grundgesetz übernommenen Artikel zu Religion und Religionsgesellschaften (Art. 135-141 WRV) hätten dank ihrer konsistenteren Systematik dem leider bis in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes eingedrungenen Mißbrauch, das Individualrecht der Glaubens-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit umzufälschen in ein Kollektivrecht der Religionsgemeinschaften speziell der Großkirchen, einen viel härteren Widerstand leisten können.Damit mag es genug sein mit dem Begründen der Feststellung, daß nichts weiter von der Wahrheit entfernt ist als jene Versuche, die Weimarer Verfassung verantwortlich zu machen für jenes »Bündnis von Mob und Elite« (H. Arendt), an dem die Republik schließlich zugrundeging, überwältigt von der braunen Diktatur. Nein - verantwortlich für diese Katastrophe war ganz etwas anderes. Es war der Verrat, den die Mehrheit der Politiker, der Gerichte und der Rechtswissenschaftler nach 1920 an einer Verfassung beging, die etwas voraussetzte, was die führenden Schichten Deutschlands nicht anzuerkennen willens waren: daß die Niederlage von 1918 Konsequenz einer illusionär antidemokratischen und darum antieuropäischen Politik gewesen war.So war die Beseitigung der Weimarer Verfassung eines der Hauptziele, das Hitlers »Marsch nach Berlin« verfolgte, der 1923 vor der Münchner Feldherrenhalle erst einmal zusammenbrach, weil er gar zu überstürzt und dilettantisch angelegt war. Aber im darauf folgenden Hochverratsprozeß wurde ihm dieses Ziel der Verfassungsbeseitigung als ein Handeln »in rein vaterländischem Geiste und aus edelstem selbstlosen Willen« als mildernder Umstand angerechnet!Oder man lese einmal nach, was der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt 1924 im Anhang zu seinem Buch über die Diktatur zum Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung sagt: »...ein gefährlicher Mißbrauch, die Verfassung zu benutzen, um alle möglichen Herzensangelegenheiten als Grundrechte und Quasi-Grundrechte in sie hinein zu schreiben. Wesentlich ist jeder Verfassung die Organisation.« Nun, in der Präambel der Weimarer Verfassung haben wir ganz etwas anderes als das für sie Wesentliche bezeichnet gefunden! Aber wie gut wir ihn kennen, diesen onkelhaft herablassenden Ton, mit dem deutsche Staatsrechtslehrer - viele unter ihnen Enkelschüler Schmitts - noch 1990 während der deutschen Verfassungsdebatte über Grundrechte zu sprechen pflegten, sie, denen nach wie vor die Machtorganisation wichtiger ist als die Rechtskonstitution.Die derzeitigen Debatten über doppelte Staatsbürgerschaft und Integration zeigen auch, wie tief die Unklarheiten über die menschenrechtliche Fundierung der Grundrechte sind. Wie sieht der Weg von den unveräußerlichen Menschenrechten des Art. 1 Abs. 2 zu den Deutschenrechten Art.8ff aus? Die Konservativen behaupten: Im Grunde gibt es diesen Weg gar nicht. Entweder man wird als Deutscher oder nicht geboren. Allein im ersten Fall hat man alle Rechte der Deutschen und dazu das Menschenrecht, diese Rechte nur mit denen teilen zu wollen, denen die Deutschen es erlauben.Die derzeitige Unterschriftenkampagne der CDU/CSU will genau diese Abgrenzungsstrategie zwischen Menschen- und Grundrechten verfolgen. Gegen sie erhebt sich freilich die Frage, ob sie mit dem Bekenntnis zu unveräußerlichen Menschenrechten laut Art. 1 Abs. 2 GG im Einklang steht. Und wenn Art. 16 Abs. 1 den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft vorbehaltlos verbietet - ist es dann verfassungsgemäß, deren Erwerb auszuschließen, weil Drittländer bestimmte Paßgesetze haben? Und da es sich hier um Grundrechte handelt: Kann über sie mit Mehrheit abgestimmt werden?Die Versicherung, man wolle ja Integration, müsse sie aber eben deswegen an Bedingungen knüpfen, weil gar keine Klarheit darüber besteht, ob in der Gesellschaft, die solches konstatiert, überhaupt die Kraft zur Integration vorhanden ist. In unseren Tagen entscheidet sich das daran, ob Kräfte gegen die Übermacht der Abgrenzungs- und Ausschließungstendenzen vorhanden sind. Die Kraft, auf die hier alles ankommt, ist die menschenrechtlich fundierte Demokratie der Grundrechte, eine Demokratie, in der Bürger und Bürgerin nicht durch zweideutige Unterschriftenkampagnen manipuliert, sondern zur Entscheidung aufgerufen und ermächtigt werden.
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