Die verrückte Ehelichkeit

RAF-Briefe Der Briefwechsel zwischen Gudrun Ensslin und ihrem Verlobten Bernward Vesper zeigt die Menschen hinter dem RAF-Mythos

Notstandsgesetz“ – so beschriftete Gudrun Ensslin die schwarze Mappe, in der Bernward Vesper den Briefwechsel mit seiner ehemaligen Verlobten aus den Jahren 1968 und 1969 aufbewahrte. Gudrun Ensslin, in dieser Zeit Doktorandin und – wie Bernward – Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes, gelangte später als RAF-Terroristin zu trauriger Berühmtheit; sie nahm sich im Oktober 1977 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim das Leben.

Auch Bernward Vesper, Sohn des Nazi- Dichters Will Vesper, beging 1971 Selbstmord; sein posthum veröffentlichter, autobiografischer Roman Die Reise (1977) ­wurde „im Totenglanz der schönen Notstandsgesetzgeberin“ zu einem Bestseller und gilt als literarischer Nachlass der 1968er-Generation.

Die nun im Suhrkamp Verlag erschienene Korrespondenz spiegelt die Situation ab Anfang 1968 wider, als Gudrun Bernward verlässt und mit ihrem gemeinsamen, sieben Monate alten Sohn Felix zu Andreas Baader zieht. Besondere zeithistorische Relevanz erhalten die Briefe ab April 1968: Gudrun Ensslin sitzt in Folge der Brandanschläge auf zwei Kaufhäuser in Frankfurt am Main in Untersuchungshaft.

Tragischer Liebes-Roman

Wie der Klappentext verspricht, handelt es sich um „einen großen, tragischen Liebes- Brief-Roman … , der zugleich Realität war“. Das Buch, das unter anderem auch einen Brief Gudruns an den Mitbrandstifter Andreas Baader enthält, beschließt eine persönliche Nachbemerkung von Felix Ensslin, über dessen Verbleib in den Briefen verhandelt wird.

Felix Ensslin kommt nach der Inhaftierung seiner Mutter zu Bernward nach Berlin, der allerdings aufgrund der bis 1998 geltenden Gesetzeslage als unverheirateter Vater kein Sorgerecht besitzt. Im Zentrum der Briefe steht Felix: Bernward bemüht sich, das Sorgerecht für seinen Sohn durch eine Ehelichkeitserklärung von Gudrun zu erwirken. Der Eindruck entsteht, dies diene mitunter als Anlass für den Versuch, Gudruns Liebe zurück zu gewinnen.

Gudrun hingegen sucht in den Briefen in erster Linie die Verbindung zu ihrem Kind. Sie verlangt ausführliche Berichte über Felix‘ Entwicklung; bittet Bernward aber auch um Geld und die Besorgung diverser Konsumgüter für ihre andauernde Untersuchungshaft. Zugleich geben die Briefe der beiden einen Einblick in die politischen Ereignisse rund um die internationalen Proteste. Dabei verändert sich deutlich ihre Sprache: anfangs noch Zeugnisse einer Verhaftung und Selbstverortung in der bildungsbürgerlichen Kultur (das Spiel mit Literaturzitaten und der Gebrauch des Französischen inbegriffen), nehmen sie allmählich den schnoddrigen Stil der Beat-Autoren beziehungsweise den Duktus der linken Agitpropliteratur der späten 1960er Jahre an.

Die Briefeschreiber rationalisieren, manipulieren und politisieren sich selbst und gegenseitig in ihrer Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und denen des Anderen. Das Politische überlagert schließlich sogar die dringliche Frage nach dem Verbleib und der Sorge um Felix. So beschwert sich Bernward, der auf die Ehelichkeitserklärung wartet, bei der zögernden Gudrun: „Im Brief kein Wort über die verrückte Ehelichkeit … Du mußt das richtig verstehn, es ist eben die konkrete Auflehnung gegen die Gesetze von 1871, auf die sich Deine ‚Macht‘ stützt“.

Als alleinerziehender Vater gerät Bernward in die gerade entstehende Berliner Kinderladenszene und kommt zu theoretischen Einsichten wie: „Jeder Mann sollte die Arbeiten der Frauen einmal längere Zeit hindurch verrichten, – er würde sie dann eher verstehen. (“Ich mag keine Männer, die ‚im Haushalt‘ arbeiten“, ist die Kehrseite der Unterdrückung!)“.

Gleichzeitig berichtet Bernward von seiner Arbeit, wobei man bekannten Persönlichkeiten wie Felix’ Taufpaten Rudi Dutschke oder Herbert Marcuse begegnet, über den er schreibt: „Dann war ich bei Marcuse, dem Propheten a. D., der in sich zusammensackte, als immer deutlicher wurde, daß die Mehrheit der Meinung war, jede Theorie, die nicht in die Praxis überleitet, ist eine schlechte Theorie …“.

In Gudruns Briefen blitzt immer wieder die Möglichkeit einer Rückkehr in ein normales Leben auf, beispielsweise wenn sie spekuliert, dass Felix bei ihrer Entlassung drei Jahre alt sein würde. Eine Radikalisierung zeichnet sich in ihren späteren Briefen ab: „Nackt und bloß präsentiert sich das System, wo kann man noch so einfach lernen wie hier: die 2 Klassen, die mit und die ohne Schlüssel, und alle daraus folgenden Erscheinungen: totale Entmündigung (und die Freiheitsidee und – lüge präsentiert sich hier als ‚Resozialisierungsidee‘), Korrumpierung, Profitgier, na usw. … und natürlich viel viel zum Heulen komisches Zeug“.

In Gudruns sprachgewaltigem Brief an Andreas Baader vom August 1968 wird hingegen deutlich, wie unberechtigt Bernwards zeitweilige Hoffnung auf ein neues Leben mit Gudrun war. Auch sein Versuch, den Konkurrenten Baader auszustechen, indem er ihn in seinem Schlusswort im Kaufhausbrandprozess politisch-rhetorisch und intellektuell überflügelt, musste scheitern. Felix sah seine Mutter nur einmal kurz wieder, als die Brandstifter auf Kaution freikamen, was diese als Gelegenheit zur Flucht nutzten.

Sand in die Maschine

Nach Bernwards Freitod wuchs Felix bei einer Pflegefamilie auf. Das Konvolut mit den Briefen seiner Eltern findet erst 2003 den Weg zu Felix Ensslin; er erfährt durch sie eine „Heilung“. Für ihn sind die Briefe wichtig, „weil sie in die Zwangsläufigkeit der großen Erzählmaschine, wonach alles immer schon auf den Tod, den Mord, den Selbstmord hinausläuft, ein wenig Sand zu werfen helfen. Ein klein wenig Jetzigkeit, Möglichkeit und Anderssein in die Geschichte eintragen“.

Genau darin liegt die Bedeutung der Briefe heute: Sie legen den Blick auf die Menschen frei, die unter dem RAF-Mythos verschüttet wurden. Wer in den Briefen nach blutrünstigen Terroristen oder Revolutionsromantik sucht, wird enttäuscht sein. Der Briefwechsel ist vielmehr das beeindruckende Zeugnis des Austausches von zwei Menschen, dessen Intensität, Verbindlichkeit und Tiefgründigkeit geradezu berauschend wirkt in Anbetracht der zwischenmenschlichen Kommunikation heute, der durch die mediale Revolution das Medium Brief fast verloren gegangen ist.

Notstandsgesetze von Deiner Hand. Briefe 1968/1969. Gudrun Ensslin/Bernward Vesper. Herausgegeben von Caroline Harmsen, Ulrike Seyer und Johannes Ullmaier. Mit einer Nachbemerkung von Felix Ensslin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, 289 S., 12

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