In Rio de Janeiros Kneipen und aus offenen Wohnzimmerfenstern hörte man ein Wutgeheul, wann immer das brasilianische Nationalteam bei dieser WM vom Platz gefegt wurde. „Diiilmaaa!“, brüllten die Menschen – als wäre ihre Präsidentin daran schuld, dass Brasilien bei diesem Turnier so schlecht spielte. Prompt erging sich die internationale Presse in Spekulationen, das Abschneiden Brasiliens bei der Fußballweltmeisterschaft könnte Auswirkungen auf die Präsidentschaftswahlen im Oktober haben.
Eigentlich kann Dilma Rousseff eine durchaus positive Bilanz ihrer ersten Amtszeit ziehen. Vielen Brasilianern geht es heute besser als vor vier Jahren, Millionen sind der bittersten Armut entkommen, noch mehr konnten in die untere Mittelschicht aufsteige
aufsteigen. Das Land investiert mittlerweile Milliarden in Gesundheit und Bildung. Dennoch lautete eine der Protestforderungen während des Turniers, man wolle keine Stadien, sondern bessere Krankenhäuser und Schulen. Aus Rousseffs Sicht sind solche Slogans widersinnig. Bewaffnet mit Statistiken und Bilanzen rechnet sie das den Wählern nun, kaum dass die WM vorüber ist, in ersten Wahlkampfinterviews vor. Doch die Magie der Zahlen hat an Glanz verloren, seit das Wirtschaftswachstum Brasiliens auf unter zwei Prozent gesunken ist. Ökonomisches Wachstum hängt eben auch davon ab, ob die Menschen an die Zukunft glauben.Viele Brasilianer, vor allem solche aus der oberen Mittelschicht, scheinen jenen Glauben aber verloren zu haben, etwa die Fans, die ihre Präsidentin gnadenlos auspfiffen, kaum dass sie sich in einem Stadion blicken ließ. Die Bürger haben Angst vor einer Inflation, vor Arbeitslosigkeit. Tatsächlich kämpft die Präsidentin heute unter anderen Bedingungen um eine zweite Amtszeit als vor vier Jahren. Sie fürchtet, dass sich der Pessimismus der Eliten ausbreiten könnte, und erklärt das geschrumpfte Wachstum mit der globalen Wirtschaftskrise. Dabei bekomme Brasilien jetzt einfach nur zu spüren, dass fast überall sonst die Wirtschaft stagniere oder negativ ausfalle, lauten ihre Beschwichtigungen.Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich hat Rousseff genau wie ihr Vorgänger Lula oft Schönwetterpolitik betrieben. So konnte die Sozialdemokratin zwar Meilensteine in der Sozial- und Bildungspolitik setzen, die nun selbst von ihrem Gegenkandidaten Aécio Neves und seinem neoliberalen Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB) nicht mehr in Frage gestellt werden. Aber jetzt rächt es sich, dass Rousseffs Regierung den politischen Gegner mit zu vielen Kompromissen umarmt hat. Im Parlament erreichte sie damit Zustimmungsraten von bis zu 80 Prozent, doch das lag nicht daran, dass ihre Gegner nach links in Richtung ihres Partido dos Trabalhadores (PT) abgeschwenkt wären – sondern an komplexen Deals, die die Konfliktlinien im Land verwässert haben, alles nach dem Motto: Gibst du mir deine Stimme hier, bekommt jemand von deiner Partei ein Pöstchen da.So kam es auch, dass ein Vertreter der christlich-fundamentalistischen Rechten Vorsitzender der Menschenrechtskommission wurde und das ganze Land das Projekt einer cura gay diskutieren musste, die es Psychologen erlaubt hätte, Homosexualität als heilbare Krankheit zu betrachten. Auch bei der Geschlechtergleichstellung hatten viele von der ersten Frau im brasilianischen Präsidentenamt mehr erwartet. Die erschreckend hohe Zahl an Vergewaltigungen, das Thema Abtreibung: Rousseff ließ es so gut wie nie auf einen Konflikt mit dem konservativen Rand ankommen. Politisches Profil gewinnt man so nicht.In den 90ern war Roussffs PT noch auf Menschenrechtsgruppen und Umweltaktivisten zugegangen. So schuf sie eine breite gesellschaftliche Basis für ihr erstes Regierungsprogramm. Doch diese Verbindungen sind längst gestört. Allzu oft unterstützte Roussefs Administration doch die Interessen der Industrie. In ihrer Regierungszeit wurde etwa der Código Florestal reformiert, ein Gesetz zum Naturschutz, dessen Bestimmungen zugunsten von Agrobusiness und Großgrundbesitzern aufgeweicht wurden. Die Exporte aus der Landwirtschaft bringen nun mal Devisen ins Land. Die alte Forderung nach einer Landreform hat die PT derweil aufgegeben.Dilma Rousseff hatte sich in den 60er Jahren dem bewaffneten Widerstand gegen Brasiliens Militärdiktatur angeschlossen. 1970 war sie verhaftet und wochenlang von der Polizei brutal gefoltert worden, für Jahre saß sie im Gefängnis. Immer wieder betont sie heute, dass sie stolz darauf sei, damals gegen die Diktatur gekämpft zu haben. „Wir haben gewonnen“, sagte sie kürzlich in einem Interview mit CNN, „die Brasilianer stehen heute leidenschaftlich für ihre Demokratie ein.“Die Realität ist komplizierter. Denn alle demokratischen Regierungen in Brasilien haben es bislang versäumt, eben jene Polizei zu reformieren, der Rousseff einst selbst zum Opfer fiel. Im Gegenteil: Sie hat den Sicherheitsapparat zur WM noch zusätzlich aufrüsten lassen. Das Demonstrationsrecht war zumindest in der Nähe der Stadien faktisch aufgehoben. Schlimmer noch: Im schmutzigen Krieg gegen den Drogenhandel foltert und mordet die Polizei – während sie nachweislich in genau dieses Geschäft verwickelt ist. Als die CNN-Reporterin auf diesen Widerspruch hinweist, antwortet Rousseff dünn: Sicherlich, es gibt noch viel zu tun.Unterdessen haben viele Brasilianer das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonläuft. Sie wissen, dass kein noch so kühner Wirtschaftsplan die Probleme mit der Polizeigewalt, mit überfüllten Gefängnissen oder ermordeten Umweltaktivisten lösen wird. Trotzdem stehen Rousseffs Chancen auf eine Wiederwahl nicht schlecht. Ihre politischen Gegner haben auch keine überzeugenderen Antworten.