„Die Vierte Gewalt“: Sind unsere Medien demokratiegefährdend?
Streitschrift Richard David Precht und Harald Welzer haben eine scharfzüngige Medienkritik verfasst und die Welt stürzt sich drauf. Zu Recht? Was ist so falsch an ihrer Kritik? Der vielfach prämierte Journalist Malte Herwig hat das Buch für uns gelesen
Hängen an den Lippen des Kanzlers: Journalisten auf Dienstreise mit Olaf Scholz
Foto: Michael Kappeller/dpa
Was haben deutscher Käse und deutsche Kanzler gemeinsam? Die Deutschen bevorzugen faden Geschmack – solange sie satt werden.
Gerhard Schröder, der gefallene Basta-Boy der Jahrhundertwende, kam in den „product recall“, nachdem er der Wählerschaft Hartz IV aufgetischt hatte. Willy Brandt badete angeblich gerne lau und wurde trotzdem durch den kühlen Helmut Schmidt ersetzt. Auf ihn folgte der Sattmacher der Deutschen Einheit, dessen Name allein schon Programm war. Angela Merkel und Olaf Scholz schließlich haben die Nüchternheit zur Staatsraison erhoben.
Für Deutschland ist das ein Glücksfall. Wo kämen wir hin mit unserer fragwürdigen Vorgeschichte, wenn auch bei uns Populisten wie in England, Italien oder den USA an die Macht k
SA an die Macht kämen?Für den politischen Journalismus aber ist es ein Problem. Denn die programmatische Langeweile einer promovierten Physikerin oder eines Scholzomaten liefern nicht gerade Stoff für atemlose Reportagen aus dem Zentrum der Macht. Also würzt man die Texte mit Anekdoten, kleinen Details, die menschliche Nähe und innere Konflikte suggerieren sollen. Der szenische Einstieg über die Kaffeetasse ist vom einzelnen Klischee längst zum Genremerkmal journalistischer Berichterstattung geworden. Vor ein paar Jahren erschien eine preisgekrönte Reportage über den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz, in der so detailliert beschrieben wurde, was Schulz im Wahlkampf alles isst und trinkt, dass man aus dem Text den Speiseplan für eine mittelgroße Redaktionskantine herausredigieren konnte. Man kann den Stil solcher Reportagen läppisch finden, den Erkenntnisgewinn banal. Aber sind sie damit gleich demokratiegefährdend?Das jedenfalls suggerieren der Autor Richard David Precht und der Soziologe Harald Welzer in Die Vierte Gewalt. Wie Meinungsmehrheit gemacht wird, auch wenn sie keine ist (Fischer). Es ist ein merkwürdiges Buch, halb Analyse der deliberativen Öffentlichkeit, halb Traumatherapie der Autoren, die im deutschen Talkshow- und Bestellerkosmos als eine Art „public intellectuals“ firmieren und für ihre konträren Einlassungen zur Corona-Impfpflicht oder Waffenlieferungen an die Ukraine viel öffentlichen Prügel bezogen haben.Als Stilkritik gar nicht so falschPrecht und Welzer erheben den Vorwurf, dass sich der politische Journalismus heute mehr für Politiker als für die Politik interessiere. Statt Information und Analyse politischer Inhalte liefere die Presse persönlich zugespitzte Wer-gegen-wen-Berichterstattung, vermenge Fakten mit Meinung und steigere sich im Wettstreit mit „Direktmedien“ wie Twitter, Tiktok und Telegram in eine Eskalationsspirale der Empörung hinein: Selbst in seriösen Medien seien moralistisches Hyperventilieren und die Diffamierung Andersdenkender inzwischen an der Tagesordnung: die ganze „Kultur der Assholery“, wie sie in den sozialen Medien gepflegt wird. „Die Öffentlichkeit, unverzichtbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, verkam und verkommt so in weiten Teilen zur Bühne permanenter Empörung.“Als Stilkritik mag das gerade im Hinblick auf den Diskurs in sozialen Medien gar nicht mal so falsch sein. Allerdings wundert man sich doch, wenn ausgerechnet Talkshow-Dauergäste wie Welzer und Precht kritisieren, dass in ebendiesen Talkshows von den Teilnehmern bestimmte Antworten erwartet werden. Donnerwetter, wer hätte das gedacht? Vielleicht mal selbst eine Pause einlegen?Die mediale Eigendynamik von TV-Nachrichten und Diskussionen haben Marshall McLuhan und Neil Postman schon vor Jahrzehnten beschrieben. Auch der Vorwurf des Kampagnenjournalismus ist nicht neu, aber wenigstens bedenkenswert. Der Fall des ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff war ein Lehrstück über die bisweilen fatale Eigendynamik der Medien. Wir Journalisten tun gut daran, solche Fälle als Anlass zur Selbstkritik zu nehmen: Nach welchen Maßstäben kritisieren wir Politiker? Sind wir uns auch im Gebrüll der sozialen Medien noch der Verantwortung für jedes unserer Worte bewusst? Wie viel sagt ein Schnappschuss, eine Momentaufnahme wirklich aus? Das Lachen von Laschet und das Bobbycar des Bundespräsidenten waren verdammt effektive Aufhänger – in jeder Hinsicht.Und welcher Journalist wäre nicht einer Meinung mit den Autoren, wenn sie fordern, dass Journalismus überraschen und herausfordern soll, statt nur als Gefühlsverstärker das Erwartbare zu liefern?Aber dann schießen Welzer und Precht mit ihrer Kritik über das Ziel hinaus und drehen selbst an der Eskalationsspirale. Dieselben Autoren, die eben noch verbale Entgleisungen und das sinkende Anstandsniveau beklagt haben, schreiben von „Vierte-Gewalttätern“, von „journalistischer Meutenbildung“, „Komplizenschaft“ und „Enthemmung“.Das sind Vokabeln aus dem Wörterbuch des Putsches, und man kann den beiden Autoren nicht zugutehalten, dass sie solche Begriffe naiv verwendeten. Denn Welzer und Precht suggerieren tatsächlich eine Art Machtergreifung der Vierten Gewalt. Sie werfen den Vertretern der Leitmedien vor, selbst Akteure zu werden und die Regierenden mit unisono vorgetragenen Handlungsaufforderungen vor sich herzutreiben. Spätestens seit der Migrationskrise, der Corona-Pandemie und dem Überfall Russlands auf die Ukraine begnüge sich die Vierte Gewalt nicht mehr mit einer umsichtigen Kontrollfunktion: „Die Politik, so scheint es, soll von den Leitmedien nicht schlichtweg kontrolliert, nein, sie soll oft genug mit Macht zu Entscheidungen getrieben werden!“Der Sound der EchokammerNun mag man es den Verfasserinnen und Verfassern von Leitartikeln verzeihen, wenn sie sich wünschen, auch in Parlament und Regierung den einen oder die andere Leserin für ihre Texte zu finden. Aber wie ernst kann man die These der Autoren nehmen, dass die „amtierenden Medien“ die Politik mitbestimmten und aus der deutschen Demokratie bald eine „Mediokratie“ zu werden droht?Es hilft nicht, dass die beiden sich immer wieder selbst widersprechen. Einmal unterstellen sie, dass die Medien den Kanzler mit der Forderung nach mehr Waffenlieferungen unter Druck setzten. Dann wiederum schwadronieren sie mit Bezug auf Scholz’ „Zeitenwende“ und den Rüstungsetat von der „konzertierten Übernahme des Regierungs-Narrativs durch sämtliche Leitmedien“.Mal beschwören sie den Einfluss der Medienbranche, mal sorgen sie sich um deren „Selbstverzwergung durch Austauschbarkeit und Verwechselbarkeit“. Denn die etablierten Medien hätten in der Bevölkerung an Vertrauen verloren. Das „veröffentlichte Meinungsbild“ spiegele kaum noch das tatsächliche Befinden der Bevölkerung – etwa in Sachen Ukraine-Unterstützung –, sondern sei das Produkt eines Elitendiskurses, der sich in den Echokammern der Macht selbst reproduziere. An anderer Stelle wiederum heben die Autoren die „mitfühlende Anteilnahme“ der Bundesbürger am Geschehen in der Ukraine hervor.Müssen wir uns also Sorgen machen um die deliberative Öffentlichkeit? Gefährdet die Entwicklung der Medien unsere Demokratie? Wie lange wird Olaf Scholz den „immensen und immer stärker anwachsenden medialen Druck“ noch aushalten, der Precht und Welzer solche Sorgen um den Kanzler macht?Wer Scholz einmal persönlich erlebt hat, der weiß, dass dieser Mann keine Resilienztherapie braucht. Hinter der grauen Fassade steckt ein eisernes Gerüst, das einer Bismarck-Statue Konkurrenz machen könnte. Medialer Druck lässt Scholz kalt, wie er zuletzt im Interview mit der New York Times klarmachte. Auf die Frage, warum Deutschland nicht endlich Leopard-Panzer an die Ukraine liefere, antwortete Scholz: „Führung heißt nicht, dass man tut, was die Leute von einem verlangen. Führung heißt, die richtigen Entscheidungen zu treffen und sehr stark zu sein. Und das tue ich.“In Wirklichkeit ist schon der Begriff der Vierten Gewalt eine maßlose Selbstüberschätzung. Darin aber liegt auch die Freiheit der Medien: Wir Journalisten werden von niemandem gewählt und sind niemandem Rechenschaft oder Repräsentation schuldig. Wir berichten, decken auf und kritisieren. Wer den Spieß umdrehen und uns kritisieren will, der soll das tun, doch bitte mit mehr Niveau. Denn auch Precht und Welzer erzählen am Ende eine ziemlich einfach gestrickte Geschichte: Hochmut kommt vor dem Fall. Fragt sich nur: Wer ist hier hochmütig?Placeholder authorbio-1
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