Migrationspolitik und Wahlkampf Sieht man sich Statistiken genauer an, kann man erkennen, dass Immigration rückläufig ist. Trotzdem werden gern diffuse Ängste geschürt
Für Familienpolitik oder Zuwanderung interessiert sich niemand", zitierte die FAZ Anfang August einen Referenten des Kanzlerkandidaten der Union, Edmund Stoiber. Um aber für Eventualitäten gewappnet zu sein, holt der bayerische Innenminister Günther Beckstein - frisch ins Kompetenzteam Stoibers berufen - das Reizthema doppelte Staatsbürgerschaft schon einmal ans Wahlkampflicht. Beckstein sieht durch das seit 2000 geltende neue Staatsbürgerschaftsrecht "die schlimmsten Befürchtungen noch übertroffen". Die Zahl der Menschen mit Doppelpass sei gestiegen - 2001 um 88.995, 1999 waren es nur 19.721. Zur Erinnerung: Roland Koch hatte mit einer Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft die Wahl in Hessen gewonnen. Der Satz, der damals an einem Stan
tand der CDU fiel, ist inzwischen geflügelt: "Wo kann ich hier gegen Ausländer unterschreiben?" Was an dem Doppelpass so bedrohlich sein soll, sei dahingestellt. Interessant ist ein Blick auf die Zahlen. 2001 sind Spätaussiedler mit enthalten, die vor der Gesetzesänderung nicht erfasst waren und deren doppelte Staatsbürgerschaft früher generell hingenommen wurde. Hinzu kommen 23.403 Kinder von Ausländern, die mit Geburt einen Doppelpass haben und sich erst bei Volljährigkeit für einen entscheiden müssen. Mit Zahlen zu hantieren, die beunruhigend klingen sollen, hat Methode. Auf dem CDU-Wahlparteitag im Sommer sprach Edmund Stoiber sehr wohl über Zuwanderung, nämlich davon, dass jährlich 500.000 bis 600.000 Ausländer nach Deutschland kämen, was die Gesellschaft "gerade noch" bewältigen könne. Bei einem Wahlkampfauftritt in Köln erklärte er, Zuwanderung begrenzen zu wollen, weil Deutschland die Einwanderer schon jetzt nicht integrieren könne. Was Stoiber vergisst: Es ziehen jährlich auch Hunderttausende Ausländer weg. So betrug das Wanderungssaldo im Jahr 2000 86.000 Menschen. Damit ist pro 1000 Inländern ein Ausländer mehr im Land. In den Jahren 1997 und 1998 gab es sogar ein negatives Wanderungssaldo. Es ist also keineswegs sicher, dass das Thema Migration im heißen Wahlkampf nur am Rande eine Rolle spielt. Es lässt sich sehr schnell hochziehen, weil es an diffusen Ängsten der Menschen anknüpft. Angesichts der Arbeitsmarktsituation gibt es die alte Furcht, einem Verdrängungswettbewerb ausgesetzt zu sein. Wenn das so wäre, müssten in den Städten mit einem hohen Ausländeranteil auch hohe Arbeitslosenquoten vorhanden sein. Das ist nicht so. Von den Städten mit dem zwischen 20 und 28 Prozent höchsten Ausländeranteil - Frankfurt/ Main, Stuttgart, München, Köln - liegt nur Köln bei der Arbeitslosigkeit etwas über dem Bundesdurchschnitt. In Städten mit extrem geringem Ausländeranteil, etwa Dresden und Leipzig, ist die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich. Auch ein negativer Druck auf die Einkommen durch die Anwesenheit von ausländischen Arbeitnehmern lässt sich nicht belegen. Im Gegenteil. Das Einkommensgefälle geht nach wie vor von West nach Ost und Süd nach Nord. Die Regionen mit den höchsten Einkünften haben auch einen hohen Ausländeranteil. Eine andere Vermutung bezieht sich auf die Belastung der Solidarkassen durch Migranten. Hamburgs Innensenator Ronald Schill formuliert das so: Arbeitslose Ausländer "verfrühstücken den deutschen Wohlstand". Etwas weniger rassistisch formuliert, ist bei anderen davon die Rede, dass es keine Zuwanderung in die sozialen Systeme geben dürfe. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen hat den komplizierten Sachverhalt für das Jahr 1995 einmal durchgerechnet. Im Verhältnis von Mehreinnahmen zu Mehrausgaben ergab sich bei der Zuwanderung von Ausländern ein Plus von 2,5 Millionen Mark, bei den Aussiedlern waren es 12,5 Millionen. Fiskalisch also ist die Anwesenheit von Ausländern ein Gewinn. Arbeitsmarktpolitisch haben sie Lücken gefüllt, angefangen von der Baubranche in den fünfziger Jahren bis zum High-Tech-Sektor heute. Gleichzeitig haben Inländer mit ausländischem Pass auftauchende Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt - etwa Arbeitskräftemangel in bestimmten Bereichen - durch hohe Mobilität ausgeglichen. Das ist im Übrigen der Grund für den hohen Ausländeranteil in Frankfurt oder Stuttgart. Es gebe erhebliche Integrationsdefizite - das ist derzeit das Argument, wenn der Ökonomie- und Sozialpolitik-Stammtisch argumentativ nicht mehr weiter weiß. Ghettobildung, Parallelgesellschaft, mangelnde Sprachkompetenz sind die Stichworte. Um Ghettobildung knapp zu problematisieren: Migrantenfamilien, gerade jene der ersten Generation, zählen oft zu den einkommensschwachen Schichten. Dass sie in nicht sanierte Altbauten ziehen, lässt sich nachrechnen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich in Berlin-Kreuzberg eine türkische und studentische Community herausgebildet hat. Das ist eine wohnungsbaupolitische Frage der Kommunen und eine soziale Frage, was Wohnen immer war. Die Ghettoisierung von ausländischen Mietern ist der latenten Fremdenfeindlichkeit der Mehrheitsgesellschaft geschuldet, die keineswegs mit wachsendem Einkommen schwindet. Die deutsche Gesellschaft hat sich erst sehr spät offiziell eingestanden, Einwanderungsgesellschaft zu sein. Erst mit der Debatte um das neue Staatsbürgerschaftsrecht wurde das auf Seiten der Politik offen erklärt. In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist das Reizwort nicht zu finden. Umschrieben wird das mit der Formel, dass Zuwanderung stattgefunden habe. Aber auch die Inländer mit ausländischem Pass haben sich über lange Zeit nicht als Einwanderer gesehen. Für eine große Mehrheit war klar: Noch ein, zwei Jahre ranklotzen, dann gehen wir zurück. Dass daraus für viele nichts wurde, ist bekannt. Die Weigerung, sich als Einwanderungsland zu sehen, hat auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft zu der an die Bleibenden gerichteten Erwartung geführt, dass sie sich assimilieren. Bester Beweis für Assimilierung sei Sprache, und diese Leistung sollen die erbringen, die hierher gekommen sind. So wurden im Laufe der Zeit Sprachkurse angeboten. Es wurden aber bis heute keine Lehrer dafür ausgebildet, Kinder zu unterrichten, die hier geboren wurden, deren Erstsprache aber nicht Deutsch ist. Hinter der Erwartung an Assimilierung steht das Bild einer ethnisch und kulturell und damit auch sprachlich homogenen Nation. Das ist aber weder aktuell noch historisch deutsche Realität, und es ist darüber hinaus für eine lebendige und dynamische Gesellschaft auch nicht wünschenswert. Eigentlich aber war Integration kein Thema, da die Migranten, die im Land lebten, hier waren, um Lücken auf dem Arbeitsmarkt zu füllen. "Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen" - dieser Satz von Max Frisch wurde lange Zeit nicht begriffen. Jetzt ist von Integration die Rede und von Zusammenleben. Darüber, wie das funktionieren kann, kann ein Blick in die Betriebe Aufschluss geben. Sie sind zwar keine heile Welt der Integration, unterscheiden sich aber von der Gesellschaft insgesamt. Auch dort hat es in diesem Jahr Wahlen gegeben, Betriebsratswahlen, niemand aber hat gewagt, mit offener oder latenter Fremdenfeindlichkeit auf Stimmenfang zu gehen. Gleiche Rechte wie sie schon lange für ausländische Arbeitnehmer im Betriebsverfassungsgesetz verankert wurden, sind eine Säule des Miteinanders. Die andere ist die Verpflichtung, gegen Fremdenfeindlichkeit vorzugehen. Zu den allgemeinen Aufgaben des Betriebsrats zählt dann entsprechend des neuen Betriebsverfassungsgesetzes "die Integration ausländischer Arbeitnehmer im Betrieb und das Verständnis zwischen ihnen und den deutschen Arbeitnehmern zu fördern sowie Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Betrieb zu beantragen". Daneben gibt es eine Reihe von Betriebsvereinbarungen, die Maßnahmen zur Antidiskriminierung festlegen. In diesem Punkt gibt es einen Grundkonsens zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften bzw. Betriebsräten. Zusammen mit den rechtlichen Regelungen bildet das einen Rahmen, gegen den zu verstoßen zweierlei Folgen hat: Erstens: Mögliche Sanktionen bis zur fristlosen Kündigung. Zweitens: Selbstisolierung innerhalb des sozialen Gebildes Betrieb. Ein solcher Rahmen existiert auf gesellschaftlicher Ebene nicht. Der Konsens, der nach Überfällen von Rechtsradikalen auf Ausländer beschworen wird, wird gerne dann wieder verlassen, wenn es um Stimmen im Wahlkampf geht. Aber immerhin eine rechtliche Regelung steht an. Bis Mitte nächsten Jahres muss die Bundesregierung die Antidiskriminierungsrichtlinie der EU in nationales Recht umsetzen - wer dann auch immer Kanzler sein wird.
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