Wer Ende der sechziger Jahre mit dem Studium der Literatur begann, wurde auf zwei grundlegende Bücher aufmerksam gemacht - auf Wolfgang Kaysers monumentale Studie Das sprachliche Kunstwerk, 1948 erschienen), eine Einführung in die Literaturwissenschaft, die durch ihren Umfang und ihre unendliche Verästelung manchen Studienanfänger nachhaltig deprimierte. Das andere Buch ist kürzer, stammt von Emil Staiger und trägt den Titel Grundbegriffe der Poetik (1946). Als "Einführung" war das Buch ebenfalls denkbar ungeeignet, weil es Literaturwissenschaft als ebenso hermetischen wie meisterlichen Kult zelebrierte. Für Emil Staiger war Interpretation eine Art Liebesakt zwischen Interpret und Text. Diesem Akt entsprangen zuweilen betörende Einsichten, die j
Einsichten, die jedoch mehr bestürzten als belehrten. Mit dem Hinweis auf Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (1960) änderte sich das Verständnis von Literatur, Interpretation und längerfristig auch von wissenschaftlicher Arbeit. "Erst mit der Sprache", sagte Gadamer, "geht die Welt auf". Sprache ist dialogisch von Hause aus. Das aber bedeutet, dass Menschen sich selbst wie ihrer Umwelt gegenüber immer als Verstehende verhalten müssen, wenn sie wissen wollen, was ist. Das Verstehenkönnen und Verstehenwollen gehört zur menschlichen Existenz und insofern erhob Gadamer mit seiner philosophischen Hermeneutik einen Anspruch auf Universalität. Die Menschen bilden eine "Gesprächsgemeinschaft" nicht nur in der Gegenwart, sondern - durch Texte aus Dichtung, Religion, Philosophie, Politik und Recht vermittelt - auch mit ihrer Geschichte und Tradition. Die Texte unterschiedlicher Herkunft und Form sind nicht einfach da, sondern müssen von den jeweiligen Lesern immer neu verstehend erschlossen werden. Das geschieht im Prozess der Interpretation. Gadamer sprach in diesem Zusammenhang von einem "Überlieferungsgeschehen", in dem die kulturellen Horizonte von vergangenen Lebenswelten mit denen der Gegenwart "verschmolzen" werden. Das Produkt dieser Verschmelzung ist nicht "die" Wahrheit, sondern eine historisch bestimmte und bestimmbare Wahrheit, wie sie der Interpret aus dem Text- und seinem eigenen Verständnishorizont erarbeitet hat. Solche Wahrheit unterliegt dem, was Jürgen Habermas "die revisionistische Kraft des besseren Arguments" genannt hat.Wahrheit und Methode stellte das ziemlich unfassbare und scheinbar beliebige Geschäft der Interpretation auf eine neue Basis. Klassische Texte standen nun nicht mehr wie eratische Blöcke in der Bildungslandschaft, sondern blieben, auch was ihre Geltung betraf, eingebunden in eine "Wirkungsgeschichte". Dieser unterlag auch Gadamers Buch selbst, denn Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel deckten nicht nur Begründungsschwächen und immanente Probleme des hermeneutischen Konzepts auf, sondern auch seine zumindest latent konservativen Züge, da die Autorität des Traditionsbezugs, mit dem sich das gegenwärtige Verstehen arrangieren soll, nicht oder zu wenig kritisch auf seine Implikationen untersucht wird. Eine Pointe der "Wirkungsgeschichte" von Wahrheit und Methode ist daher, dass es vor allem die Kritiker Gadamers waren, die dessen Hauptwerk zu weltweit großer Beachtung verhalfen. Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren. Sein Vater war Naturwissenschaftler und hielt von seinen Kollegen der geisteswissenschaftlichen Fakultät gar nichts ("Schwätzprofessoren"). Gadamer studierte trotzdem ab 1918 ziemlich unsystematisch Germanistik, Romanistik, Geschichte, Psychologie, Sanskrit und Musikwissenschaft in Breslau. 1919 kehrte er nach Marburg zurück und lernte den Neukantianismus von Paul Natorp und Nicolai Nartmann kennen. Bei Natorp promovierte er 1922 mit einer Arbeit über Das Wesen der Lust in den platonischen Dialogen. 1923 traf er mit Martin Heidegger zusammen, was bei Gadamer "eine völlig Erschütterung allzu früher Selbstsicherheit" auslöste. Er studierte jedoch zunächst nicht weiter Philosophie, sondern Altphilologie und legte 1927 sein Staatsexamen in diesem Fach ab. Zwei Jahre später habilitierte er sich bei Heidegger mit einer Arbeit über Platons dialektische Ethik. Er wurde Privatdozent und erhielt 1933/34 Vertretungsprofessuren auf den Lehrstühlen der von den Nazis vertriebenen Philosophen Richard Kroner in Kiel und Erich Frank in Marburg. Erst 1937 gelangte Gadamer in Leipzig auf einen eigenen Lehrstuhl. Während des Krieges, an dem teilzunehmen ihn die Folgen einer Kinderlähmung bewahrten, vertrat er dreimal die "deutsche Philosophie" auf internationalen Kongressen. 1947 ging er von Leipzig nach Frankfurt und zwei Jahre später nach Heidelberg, wo er bis 1968 lehrte. Danach übernahm er noch Lehraufträge in den USA bis ins hohe Alter. Zwischen 1985 und 1995 erschien eine zehnbändige Werkausgabe mit seinen Büchern, Aufsätzen und Vorträgen. Ein Professorenleben aus dem Bilderbuch. Zu seinem 100. Geburtstag am 11. 2. 2000 richtete die Stadt Heidelberg eine große Feier aus, zu der die philosophischen Koryphäen aus aller Welt anreisten, darunter Richard Rorty, Jürgen Habermas, Paul Ricoeur, Michael Theunissen, Ernst Tugendhat. Der rüstige Greis verfolgte und ertrug den anstrengenden Vortragsparcours geduldig und entließ die Laudatores mit dem lakonischen Bescheid: "Man kann vieles nachmessen, aber was angemessen ist, kann man nicht nachmessen". Was dem Leben und Werk Gadamers angemessen ist, kann ebenfalls nicht nachgemessen werden. Dass auf dem Heidelberger Fest darüber nicht geredet wurde, war vielleicht noch angemessen, aber unangemessen war, dass in den Geburtstagsartikeln der europäischen Zeitungen ein Thema fast völlig ausgespart blieb. Niemand wollte damals wie in den Nachrufen nach seinem Tod in der letzten Woche ein klares Wort wagen zu Gadamers Arbeiten, die zwischen 1933 und 1945 entstanden sind. Es geht dabei nicht um die wohlfeile Rechthaberei von Spätgeborenen oder gar darum, Gadamer als Sympathisanten des Nationalsozialismus hinzustellen. Er war einer unter Millionen von Mitläufern, die sich einrichteten unter der Diktatur und ihr Tun und Lassen, wie ihr Reden und Schweigen aus Selbsterhaltung so gut tarnten, wie es eben ging. Die Berliner Philosophin Teresa Orozco hat 1995 eine Studie unter dem Titel Platonische Gewalt vorgelegt und im Detail an Gadamers Aufsätzen und Vorträgen aus jener Zeit nachgewiesen, wie weit der Philosoph mit seiner Tarnsprache gegangen ist. In seinem Herder-Vortrag von 1941 spielte er - wie vor ihm die rechtsradikale Intelligenz der Weimarer Republik von Ernst Jünger bis Carl Schmitt - "die am toten Buchstaben der Gesetze orientierte Verfassungslehre" gegen "den genetischen Geist und Charakter eines Volkes" aus und näherte sich in Diktion und Inhalt der herrschenden Ideologie des "Völkischen" bis zur schieren Ununterscheidbarkeit. 1967 publizierte Gadamer den Vortrag in einer bereinigten Version. Auch seine affirmative Lesart der platonischen Erziehungsdiktatur von 1942 konnte man umstandslos als ein Bekenntnis zum "autoritären Staat" im Sinne der nationalsozialistischen Brutaljuristerei lesen. Das Lob für "Gadamers virtuose Fähigkeit, die Sache des Denkens veränderten Umständen und vor allem dem Umstand dauernder Veränderung anzupassen" (Jan Ross, FAZ 11. 2. 1995), hat etwas ausgesprochen Zwiespältiges. Gadamer äußerte sich zu seiner Vergangenheit immer recht allgemein, was sein gutes Recht ist. Weniger verständlich ist der opportunistisch-apologetische Konformismus der Gadamer Schüler- und Biographengemeinde. Als Gadamer sein Hauptwerk 1960 veröffentlichte, war er bereits sechzig Jahre alt. Er hat danach noch über vierzig Jahre gelebt. Nur wenigen Philosophen vor ihm war es vergönnt, ihre eigene Wirkungsgeschichte so lange zu betrachten. Gadamer hat dies in der ihm eigenen Art des Grandseigneurs in sokratischer Gelassenheit getan. Zu seinen Tugenden gehörte das Zuhören und - wie er kurz vor seinem 100. Geburtstag sagte - "ins Offene hinein denken". Am 13. März ist er im Alter von 102 Jahren in Heidelberg gestorben.
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