Kino Die 62. Filmfestspiele von Cannes: Das Autorenkino dreht sich nicht ohne Reiz um sich selbst und blendet mit grellen Sensationen die Wirtschaftskrise aus
Seelen konnte man in Cannes billlig haben. „Drag Me to Hell, s.v.p.!” – „Reiß mich bitte in die Hölle hinab!”: Fans von Sam Raimis Horrorfilm versuchten vor dem Festivalpalais mit selbst gebastelten Karten ein paar Resttickets zu ergattern. Der Film erzählt von einer Bankangestellten, die einer alten Frau einen weiteren Zahlungsaufschub versagt und deshalb von ihr verflucht wird. Der Teufel kommt höchstpersönlich herauf, um sein Pfand abzuholen. Obgleich Hollywood-Regelwerk im besten handwerklichen Sinne, war der Film gar nicht so unrepräsentativ für das diesjährige Festival von Cannes: Mit grellen Sensationen, die mit schöner Regelmäßigkeit auf das Publikum abgefeuert werden, lenkte es von der Wirtschafts
ftskrise ab.Einen gewissen Hang zu Neo-Genrearbeiten und eine Reihe von Gewaltexzessen hatte schon das Programm versprochen. Zugleich wirkte der Wettbewerb durchaus gewichtig, wie ein besonders hochkarätiges Who-is-Who des gegenwärtigen Autorenkinos. Gleich mehrere Preisträger vergangener Jahre wie Jane Campion, Michael Haneke oder Quentin Tarantino sollten auf den dänischen Schelm Lars von Trier oder den notorischen Störenfried Gaspar Noé treffen. Und all das löste sich auch ein – einmal mehr, einmal weniger deutlich. Doch genau darin liegt vermutlich auch das Problem dieses Jahrgangs: Überraschungen waren in der 62. Ausgabe des Festivals eher dünn gesät. Festivaldirektor Thierry Frémaux hat mit seiner Auswahl auf eine allzu kalkulierte Mischung gesetzt, die zwar viele Erwartungen bediente, aber kaum Eigensinn erkennen ließ.Füchse sprechenLars von Trier lieferte mit seiner Horrormär Antichrist, in dem er seine Neurosen freien Lauf ließ, den kontroversesten Film. Bei der Pressevorführung wurde gelacht und gebuht, am Ende hatten dennoch alle fröhliche Gesichter. Ein traumatisiertes Ehepaar stellt sich im Wald seinen Ängsten. Misogynie, bei von Trier immer unterschwellig präsent, wird hier ganz explizit zum Thema. Die Kreidewelten des Amerika-Diptychons (Dogville, Manderlay) weichen artifiziellen Settings, in denen sich der Wald selbst zu räkeln beginnt. Von Trier sucht nach Transgressionen, er strapaziert Grenzwerte wie die Verstümmelungen von Genitalien im Close-Up. Ernst nehmen konnte man diese kalkulierte Provokation leider nicht. Zu viele Positionen – die des Therapeuten, des Pathetikers und des Ironikers – geraten in diesem Film miteinander in Konflikt. Und selbst wenn darin Füchse zu sprechen beginnen – „Chaos reigns!” –, passte das noch ins Konzept einer Qualitätskino-Revue, die von stilistischem Konservatismus geprägt war.Das soll den Wert einzelner Arbeiten keineswegs schmälern: Jane Campions feingliedriges Drama Bright Star über die unmögliche Liebe der jungen Fanny Brawne zum Dichter John Keats überzeugte dadurch, dass es auf romantischen Eskapismus verzichtete. Campions Kino sinnlicher Oberflächentexturen, das sich zunehmend in stilistischen Posen verloren hat, kommt hier sparsamer und deshalb wieder überzeugender zum Einsatz. Michael Hanekes Das weiße Band, der Gewinner der Goldenen Palme, legt mit kühlem Blick die autoritären Züge einer protestantischen Dorfgemeinschaft frei. Ein Arzt kommt beim Ausritt zu Sturz, der Sohn des örtlichen Barons wird misshandelt, später noch ein behindertes Kind. In kristallinen, digital nachbearbeiteten Schwarz-Weiß-Bildern lotet Haneke Machtverhältnisse aus und entdeckt im Habitus von Kindern protofaschistische Zeichen. Der Österreicher inszeniert mit gravitätischer Strenge und schließt an eine Tradition von Literaturverfilmung an, als gelte es, diese Form nochmals zu radikalisieren. Das wirkte bei aller Präzision und Raffinesse oft auch ein wenig museal.Das überdrehte Gegenstück dazu bildete Quentin Tarantinos Inglourious Basterds, der sich eine (B-Movie-)Kriegsfilmtradition aneignet und mit wunderbar komischen Sprachspielen überschreibt: Vielleicht der am stärksten unterschätzte Film in Cannes, einer, der das Kino selbst mobilisiert und es als Ventil eines ungeheuren Racheakts an der Geschichte nutzt. Mit Christoph Waltz als pedantisch-versiertem Nazi hat er zudem einen neuen Star hervorgebracht.Gestohlene MomenteZu beweisen, wie man sich treu bleiben kann und dabei doch einen Hang zum Unerwarteten bewahrt, blieb erstaunlicherweise dem mit 87 Jahren ältesten Regisseur des Wettbewerbs vorbehalten: Alain Resnais. Wie alle Arbeiten des Franzosen basiert auch Les herbes folles auf einer literarischen Vorlage, in diesem Fall auf Christian Gaillys Roman L’incident. Ein Lieblingsmotiv Resnais’ strapaziert der Beginn, nämlich die anarchische Macht des Zufalls: Die Zahnärztin Marguerite Muir (Sabine Azéma) wird beim Einkaufsbummel die Geldbörse gestohlen, der Finder, ein Familienvater namens Georges Palet (André Dussolier), schwankt zwischen schamvoller Zurückhaltung und aggressiver Annäherung – der Beginn eines zwischen Komödie und aberwitzigem Melodram changierenden Beziehungsstücks, das umso unberechenbarer und tollkühner gerät, je länger der Film dauert. Les herbes folles, von Eric Gautiers Kamera in musikalisch dahin gleitenden Bildern umgesetzt, erweitert seine Fabel um immer neue Schichten – etwa lösen die Figuren an einem bestimmten Punkt die Fantasien ihres Gegenübers ein –, bis er im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verliert. Der mild-ironische Blick von Resnais’ Spätwerks findet in diesem Film mit seiner Lust am Experiment zusammen. Die Jury würdigte diese ungebrochene Radikalität mit einem Spezialpreis der Jury.Neben Les herbes folles war Jacques Audiards Gefängnisdrama Un prophéte eine der wilderen Arbeiten im Wettbewerb. Die konventionelle Erzählrichtung des prison movie wird darin umgekehrt, da der Film statt einer Niedergangsgeschichte von einem unaufhaltsamen Aufstieg erzählt: Malik (Tahar Ramin) kommt mit Löchern in der Tasche an, als einer, der nicht einmal schreiben und lesen kann. Hinter Gittern wird er erst zum gemachten Mann. Audiard überträgt brisante zeitgenössische Themen wie die wachsende Zahl muslimischer Gefangener auf ein Genrestück – und erhielt dafür den Großen Preis der Jury.Eigenwilligere Autorenfilme, mit mehr Mut zum Experiment, konnte man in diesem Jahr meist nur in Neben- und Parallelschienen des Festivals entdecken. Etwa Go Get Some Rosemary von den New Yorker Brüdern Josh und Benny Safdie, die mit 25 beziehungsweise 23 Jahren schon das zweite Mal an der Quinzaine des Réalisateur vertreten waren. Der Film sieht auf den ersten Blick aus, als wäre er aus einer anderen Zeit: New York erscheint darin noch als eine Neighborhood, als ein Lebensraum mit konkreten Figuren. Es geht um einen Mann namens Lenny (Ronald Bronstein), Vater zweier Kinder, auf die er ein paar Wochen aufpassen muss. Doch Lenny ist ein Exempel für mangelndes Verantwortungsgefühl: ein nervöser Spaßvogel, der seine Kinder wie Gleichgesinnte behandelt und unfähig ist, aus seinen Fehlern zu lernen. Die Safdies orientieren sich an keinem Plot, sondern lassen in situativen Szenen Gefühlszustände auf- und abschwellen, der jazzige, improvisiert wirkende Stil des Films erinnert an John Cassavetes.In zwei weiteren Filmen der Quinzaine spielen Kinder tragende Rollen, in Yuki Nina vom Japaner Nobuhiro Suwa und dem Franzosen Hippolyte Girardot sowie in La Pivellina: Ersterer ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil er die kulturelle Differenz der Regisseure auch in der Geschichte des Films reflektiert. Yuki ist ein 9-jähriges Mädchen, halb japanisch, halb französisch. Die Eltern wollen sich trennen, und in einer mysteriösen Szene im Wald geht schließlich die eine Welt einfach in eine andere über. Das österreichische Filmemacherpaar Tizza Covi und Rainer Frimmel dringt in seinem kleinen, dichten Film dagegen in einen ungewöhnlichen Familienverbund vor: zu italienischen Zirkusmenschen. Die Familie wird auf eine Belastungsprobe gestellt, als ein kleines zurückgelassenes Mädchen noch dazu stößt.Beide Filme sind reich an „gestohlenen Momenten“, die, eigentlich dokumentarisch, in die Fiktion eingewoben werden. Filme, die sich selbst nahe sind und doch äußerst welthaltig – mehr davon hätte auch der Wettbewerb vertragen können.
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