Die Wiederkehr der Geschichte nach Europa

Kunst im Baltikum Vorschau auf eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste

Vor fast einem Vierteljahrhundert proklamierte Peter Bender "Das Ende des ideologischen Zeitalters" und beschrieb prophetisch die sich daraus ergebenden Chancen einer "Europäisierung Europas". Wenige Jahre später erkannte György Konrád, langjähriges Mitglied und ehemaliger Präsident der Akademie der Künste, in der "Idee der europäischen Identität" den Widerspruch zur dauerhaften Stabilität des Blocksystems. In einer strikt in West und Ost geteilten Welt war schon die Ortsbestimmung Mitte eine Provokation. "Mitteleuropa" wurde in den Kreisen der Intelligenz aus den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie (neben Konrád, vor allem Václav Havel und Milan Kundera) zu einem subversiven Decknamen für "Gemischtsein", Vielfalt, Verschiedenartigkeit, für ein Selbstbewusstsein, das sich aus der Diversität ableitet und seinen kakanischen Hintergrund nicht leugnete: Elf Völker kamen im k. u. k. Reich ganz gut miteinander aus. "In unserer Gegend ist der homogene Nationalstaat die Ausnahme und als Norm nicht brauchbar. Zu unserer heterogenen Wirklichkeit passen keine homogenen Vorstellungen und Formen. Wir sind nicht einsprachig, verschiedene Wertsysteme und Denkweisen bestehen nebeneinander."

Mit der Aufnahme von acht mittel- und osteuropäischen Ländern am 1. Mai 2004 in die EU ist 59 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Traum von Europa ein Stück Wirklichkeit geworden, die künstliche Teilung Europas endlich überwunden.


Dieser EU-Beitritt war daher ein willkommener Anlass, Künstler aus diesem Teil Europas nach Berlin einzuladen. Sie alle verbindet die totalitäre Erfahrung mit dem sowjetischen Gesellschaftsmodell, das mit seinem universellen Anspruch nach dem Krieg die Länder Mittel- und Osteuropas bestimmte.

Wie sind Künstler aus unterschiedlichen Generationen mit der Situation der Abschottung vom Westen umgegangen? Wie haben sie auf den überraschenden Fall der Mauer und das Ende des Sozialismus in Osteuropa reagiert? Welche kulturellen Werte, welchen Kunstbegriff bringen Sie in die EU?

Die Bilder, Zeichen und Begriffe, die sie uns präsentieren, machen deutlich, wie wenig wir wissen von den Transformationsprozessen, Traumata, Ängsten in diesen Ländern. 15 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist Europa immer noch durch eine "Mauer der Nichtwahrnehmung" (Christoph von Marschall) geteilt. Die Integration Europas wird stattdessen in der technokratischen Sprache der Brüsseler Bürokratie über Regionalfonds und Milchquoten administrativ vollzogen. Die Suche nach nationaler Identität, neuen Geschichtsbildern und die Abrechnungen mit den "beiden Totalitarismen" des vergangenen Jahrhunderts dort kollidieren dagegen mit den eingefahrenen politisch korrekten Sichtweisen im alten Europa. Erinnert sei nur in diesem Zusammenhang an die heftige Reaktion von Salomon Korn, Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf Sandra Kalnietes Rede auf der Leipziger Buchmesse 2004. Sie sprach vor dem Hintergrund ihrer eigenen Biografie: 1952 wurde sie in Sibirien geboren, wohin ihre Eltern deportiert worden waren. Erst 1959 mit sieben Jahren lernte sie ihre lettische Heimat kennen.

In diesen Wochen, in denen "Montagsdemonstrationen" gegen das "bankrotte System der freien Marktwirtschaft" in den neuen Bundesländern zu Felde ziehen, und viele Deutsche in beiden Teilen des Landes der Gedanke beschleicht, ob trotz der viel beschworenen "inneren Einheit" nach mehr als 15 Jahren etwas grundsätzlich schiefgegangen sein könnte mit dem Prozess der Vereinigung der Systeme, stellt sich die Frage, ob nicht vielleicht unsere Nachbarn östlich der Oder das bessere historische Los gezogen haben. Haben sie, die ehemaligen Partner der DDR im Comecon und im Warschauer Pakt, nicht genau die Übergangszeit (von 15 Jahren + weiteren Fristen nach dem Beitritt zwischen sieben und zwölf Jahren) bewilligt bekommen für die schrittweise Anpassung ihrer politischen, rechtlichen, kulturellen und ökonomischen Strukturen an die des alten Europa, die die erste frei gewählte DDR-Regierung 1990 unter dem Druck der Straße und der Abwanderung in den Westen im Überschwang des Vereinigungsprozesses ausgeschlagen beziehungsweise nicht eingefordert hat? Im Rückblick macht die Dohnanyi-Kommission unter anderem die versäumte Einrichtung von "Sonderwirtschaftszonen" für das ökonomische Desaster und die hohe Arbeitslosigkeit in weiten Teilen der neuen Bundesländer verantwortlich.

Natürlich hinkt dieser Vergleich. Die neuen Mitgliedsländer der EU waren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf sich allein gestellt, ohne die Familienbande der Brüder und Schwestern jenseits der Systemgrenze. Sie mussten, ob sie wollten oder nicht, ihr Haus in Ordnung bringen, von den Leichen im Keller bis zu den Hinterlassenschaften der kollektiven Erinnerungen auf dem Dachboden. Sie bestimmen allein die "terms of trade", aber auch den Grad der Intensität der Auseinandersetzung mit ihrer jüngsten Vergangenheit von Krieg, deutscher Besatzung und russisch-sowjetischer Okkupation danach sowie ihr Verhältnis zur eigenen Geschichte und Tradition.

Eine Kulturministerin wie Helena Demakova, die als Kuratorin für zeitgenössische Kunst über ein weltweites Netzwerk an Kontakten verfügt, ist nicht nur eine engagierte Kulturpolitikerin, die sich um kulturelle Infrastrukturprojekte in Lettland kümmert wie den Bau eines Museums für zeitgenössische Kunst, eines Konzerthauses und einer neuen Nationalbibliothek in Riga, sondern sie nimmt zugleich mit der erweiterten Zuständigkeit ihres Ministeriums für die lettische Sprache Einfluss auf die Sicherheits- und Außenpolitik des Landes. Sprachpolitik ist vor allem in Lettland, wo nur 58 Prozent der Bevölkerung Letten sind, ein strategisches Politikfeld mit hohen Risiken für die Sicherheitslage des NATO-Mitglieds. Die Staatskrise Litauens um die engen Kontakte des Präsidenten Rolandas Paksas zu einem russischen Geschäftsmann, dem enge Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt werden, ist ein Symptom dafür. Staatsbürger von Lettland oder Estland mit allen staatsbürgerlichen Rechten, vor allem dem Wahlrecht, kann nur werden, wer die Sprache beherrscht und natürlich über Verfassung und Geschichte des Landes Bescheid weiß.

Vor diesem Hintergrund werden Arbeiten wie Kaspars Gobas Moorland erst verständlich, einer Reportage über die Arbeit und das Leben russischer Torfarbeiter, die im Nordosten Lettlands, in Seda, wie auf einer Zeitinsel seit 1952 unfreiwillig ein Stück alte Sowjetunion konserviert haben.


Die estnische Fotografin Eve Kask porträtiert die Bewohner der 72 Wohnungen eines Mietshauses in einer Plattenbausiedlung am Rand von Tallinn, die einmal für 160.000 Menschen geplant war. Die Adresse Kärberi 37, die Eve Kask zum Titel der in Berlin zum ersten Mal gezeigten Arbeit machte, erinnert nach sowjetischem Brauch an den verdienten Bauarbeiter und Helden der sozialistischen Arbeit Kristjan Kärber. Straßennamen und Denkmäler künden in Osteuropa noch heute vom Typus des vorbildlichen Sowjetmenschen, der dank seines selbstlosen Charakters bereits die Ideen des Kommunismus vollkommen verinnerlicht hat, das heißt, über ein kollektiviertes Bewusstsein verfügte. Deshalb muss dieses so abstrakt-allgemeine Wunderwesen zum Zweck seiner Individualisierung wieder "mit einigen zufälligen Attributen (Sommersprossen, Pfeife, kernige Aussprüche)" ausgestattet werden.

Das Spektrum der von Eve Kask fotografierten Mitbewohner ist ein Spiegel der estnischen Gesellschaft und ein Beispiel für die absurde, künstliche Industrialisierungspolitik der sowjetischen Machthaber, die Rohstoffe und Arbeiter von weit her an den Ort der Produktion schaffen ließen, um die Fertigprodukte wiederum über weite Strecken zurückzutransportieren. Diese Politik nannte sich "Sowjetisierung" Mittel- und Südosteuropas entsprechend der Auslegung des Jalta-Abkommens über die Absteckung der Interessensphären der Anti-Hitler-Koalition durch Stalin. Der Versuch, diese Länder politisch, administrativ und ökonomisch den Bedürfnissen der sowjetischen Wirtschaft und ihren Funktionsmechanismen anzugleichen, führte außenpolitisch zu einer Verschärfung des Kalten Krieges und innenpolitisch ab den Jahren 1950/51 zu einer einseitigen Förderung der Schwer- und Rüstungsindustrie (im Westen sprach man von der "Tonnenideologie"), weil die Sowjetführung ein Umschlagen des kalten in einen heißen Krieg zwischen dem kapitalistischen und sozialistischen Lager Ende der fünfziger Jahre für möglich hielt.

Unter dem politischen Begriffsmonster "Ostblock" sind alle Landschaften, Städte, Sprachen, Kulturen jenseits der Elbe aus dem Bewusstsein Westeuropas gelöscht worden.

Heute schärfen die Künstler dieser Länder wieder die im dualen Blockdenken abgestumpften Sinne für die alten, fast schon verlorenen Übergänge und Grenzen mittelosteuropäischer Kulturlandschaften. Ihre Bilder sind für uns eine Erinnerungshilfe auf der Suche nach vergessenen, entfernten Verwandten in einem - aus westeuropäischer Sicht - historischen und kulturellen Niemandsland jenseits der Demarkationslinie des Kalten Krieges.


Auf kleinstem Raum entfaltet zum Beispiel die scheinbar so kompakte, überschaubare Welt des "Baltikums" vergessene religiöse, ethnische, soziale, kulturelle und sprachliche Vielfalt. Estnisch gehört zu den finnisch-ugrischen Sprachen, daher waren die Esten durch das finnische Fernsehen besser als alle anderen Völker der Sowjetunion über den Westen informiert. Riga und Tallinn sind protestantisch geprägte Hansestädte mit der gleichen norddeutschen Backsteingotik wie in Stralsund, Greifswald, Wismar, Rostock und Lübeck. Riga ist zugleich eine Industriemetropole mit Arbeiterquartieren aus dem 19. Jahrhundert, Markthallen, riesigen Industrieanlagen und weitläufigen, vornehmen Wohnvierteln im Jugendstil. Litauen dagegen ist ländlich und tief katholisch geformt. "Nirgendwo sind so viel Himmel/wie die Zwiebel Häute hat" (Johannes Bobrowski). Vilnius, das litauische Rom mit seinen unzähligen barocken Kirchen, ist auf Krakau und Warschau hin orientiert.

Zwischen Distanz und Nähe hin- und hergerissen, sehen wir vertraute Landschaftsbilder, Bauern, Fischer, Arbeiter, Kinder, Häuser, Interieurs und erschrecken zugleich darüber, wie fremd und entlegen uns dieser Kulturraum geworden ist.

Besonders die Fotografien aus Litauen sind sichtbarer Ausdruck eines epischen Zeitgefühls. Wie eine Zeitschleuse empfängt den Ausstellungsbesucher das labyrinthische Fotoarchiv des litauischen Fotografen Atanas Sutkus, der vor 15 Jahren noch als sowjetischer Fotokünstler in den Katalogen firmierte. Seine Schwarzweißbilder geben Einblick in den Alltag des "Homo sovjeticus" zwischen Wladiswostok und Riga. Es sind nüchterne Blicke ohne Eifer und Zorn in eine fremde, ärmliche und ritualisierte Welt, die von den Versatzstücken sowjetischer Einheitskultur gezeichnet ist. Weder affirmativ verklärend noch mit kritischer Distanz, aber voller Empathie für seine Zeitgenossen dokumentiert Sutkus die Tristesse einer angehaltenen Zeit zwischen 1959 und 1989. Mit dem Untergang des Sowjetreiches hat er sein Thema verloren und widmet sich seither seinem Archiv mit über 700.000 Negativen, von denen eine Auswahl in dieser Ausstellung zu sehen ist.

Der Blick eines Arbeitslosen (1964) oder die traurigen Augen eines kahlköpfigen, blinden Pioniers (1965) lassen den Betrachter nicht wieder los. Die Aura dieser Bilder scheint immun zu sein gegen ihre Zerstörung durch die massenhafte Reproduzierbarkeit des Mediums Fotografie. Sie wirken wie Unikate, nicht wie flüchtige, wiederholbare Abbilder. Einmaligkeit und Dauer sind in diesen Fotografien so eng verschränkt wie Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit in jenen. In der fotografischen Erzählung wird das Geschehen zu einer Erfahrung verdichtet, die nicht verfügbar oder abrufbar ist wie der stete Informationsfluss der Bilder, der uns unempfindlich macht gegen die Erfahrung des Fremden.

"Was war anders, fragt man sich heute, an diesen Menschen jenseits der magischen Linie, an ihrem Alltag, ihrem Denken, ihrer Kultur. Haben sie die Zeit verschlafen in monotonen Abläufen und paranoider Abgeschlossenheit? Münden erst jetzt, nachdem die Zeitmauer durchbrochen ... ihre Biographien wieder in den großen allgemeinen Strom Geschichte?" fragte Durs Grünbein schon 1992.


Wir haben ohne Geschichte gelebt wie ein Baum ohne Wurzeln", stellt ein Stadtrestaurator aus Klaipeda (das ehemalige Memel der Vorkriegszeit) fest. Die unerwartete Rückkehr der Geschichte nach 1989 ermöglichte eine intensive Hinwendung zur eigenen Tradition. Viele Künstler versuchen, ihre kulturelle Identität in der Vielstimmigkeit Europas neu zu bestimmen und gehen auf die Suche nach der eigenen Herkunft und Identität, die durch Massendeportationen nach Sibirien und eine rigorose Russifizierungspolitik nach 1944 in Frage gestellt worden war. Die Eliten der Gesellschaft wurden in mehreren Deportationswellen in den Gulag verbannt, wo viele schon auf dem Transport in Viehwagons starben.120.000 von 1,5 Millionen Letten fielen diesen Deportationen zum Opfer.

Deimantas Narkevicius läßt in seinem Film Legend Coming True (1999) eine ältere Frau in jiddisch gefärbtem Russisch aus dem Off die Geschichte der litauischen Juden erzählen. Parallel dazu sehen wir Bilder von vier Orten in Vilnius und seiner Umgebung, die mit der Geschichte der jüdischen Bewohner in besonderer Weise verbunden sind, unter anderem den Ghettohof. Die beiden mit Beginn der deutschen Besatzung im September 1941 eingerichteten Ghettos beiderseits der "Deutschen Straße" (Vokieciu gatve), in denen circa 60.000 Juden zusammengetrieben worden sind, wurden am 21. Oktober 1941 und am 23. September 1943 von den Nazis liquidiert. Von den 220.000 Juden in Litauen, seit dem 15. Jahrhundert ein religiöses, geistiges und kulturelles Zentrum des neuzeitlichen Judentums, wurden 94 Prozent von den deutschen Besatzern auch mit Hilfe litauischer Helfer ermordet. Die verbliebenen Reste des Ghettos räumte die sowjetische Stadtplanung der Nachkriegszeit ab. Das Gelände des Kleinen Ghettos ist innerhalb der sorgfältig rekonstruierten und restaurierten Topographie der Altstadt noch heute ein blinder Fleck. An der Stelle der Großen Synagoge, die Platz für 5.000 Gläubige bot, steht jetzt der graue Zweckbau eines Kindergartens, ihm gegenüber auf der einst kleinteilig bebauten Fläche breitet sich ein Sportplatz aus. An der Stelle der östlichen Bebauung des ehemaligen Ghettos an der deutschen Straße stehen Wohnblöcke im stalinistischen Stil der fünfziger Jahre. Die Straße selbst, die zu einer mehrspurigen Schnellstraße ausgebaut werden sollte, ist heute eine Platzanlage. Erst seit dem 50. Jahrestag der Liquidierung des Ghettos im September 1993 erinnern Gedenksteine an den Vorsteher des Ghettos und an den 1950 zerstörten jüdischen Friedhof. Die litauische Regierung, deren Staatspräsident Algirdas Brazauskas sich 1995 in der Knesset entschuldigte, beschloss neuerdings, Teile des Ghettos wiederherzustellen. Man hört, ein Wettbewerb sei ausgeschrieben worden.


Die polnische Künstlerin Zofia Kulik spannt mit ihrer erstmals in Deutschland gezeigten Arbeit From Siberia to Cyberia (1998-2004), bestehend aus 168 Tafeln in vier Reihen übereinander mit jeweils 42 Feldern, ein Assoziationsfeld zwischen dem mythischen Weiten des frostigen Verbannungsortes Sibirien und der virtuellen Welt eines Londoner "Cyberia Cafes". Geschichte und Geschichten, Ereignisse und Alltagsszenen, die Bilderflut, die uns via Fernsehbildschirm pausenlos überrollt, kristallisieren sich wie in einem Kaleidoskop (alias Schönbildschauer) zu strengen, an Teppiche erinnernden Ornamentfeldern. Der Betrachter kann an 17.160 Bildflächen vorbei flanieren. Die aus "Leerfeldern" gebildeten Zickzackmodule gliedern wie die schematische Gestalt eines Schreitenden die beliebig fortsetzbare Folge von kleinen Momentaufnahmen, die Zofia Kulik dem Fluss der Bilderkanäle entrissen hat. Jedes einzelne Bild kann dank eines gewaltigen Parallel-Kommentars identifiziert werden. Die Anordnung der Szenen auf den einzelnen Tafeln ist keineswegs zufällig. Die Bilder fügen sich zu präzise komponierten Facetten der Geschichte, die um die Physiognomik und Körpersprache der Macht, das Ornament der Masse, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Hannah Arendt) und die "Macht der Bilder" oszillieren.

Die erste Tafel eröffnet das Geschichtskaleidoskop unter anderem mit Stalin, Christus-Ikone, Bestarbeiter, Trotzki, Lenin, Speers Reichskanzlei, Arnold Brekers Schwertträger, Vera Muchinas Arbeiter und Kolchosbäuerin, Mussolini und Mao und endet vorerst auf Tafel 168 mit der Musterung Saddam Husseins nach seiner Entdeckung durch amerikanische Soldaten im Dezember 2003. Das letzte Bild zeigt eine Satellitenantenne. Und dann irgendwo dazwischen auf Tafel 112 in der 12. und 13. Reihe von oben finden wir eine Folge über "Leni Riefenstahl mit Fotokamera tanzt mit Nuba. Die Macht der Bilder... Plakat zu einem Tanzabend mit Leni Riefenstahl aus dem Jahre 1924. NOLLENDORFPLATZ. Leni Riefenstahl: ›Dieser Bahnhof hat mein Leben verändert. Hier habe ich plötzlich das Plakat zum Berg des Schicksals entdeckt ...‹ Bilder aus Der Berg des Schicksals. ... Leni Riefenstahl mit Spitzenschleier. Berlin, Anfang der 20er Jahre. ›Der Krieg war verloren gegangen und das Volk verzweifelt. Die Menschen führen ein elendes Hungerdasein ...‹ Berlin 1992. Eigens für diesen Film hat Leni Riefenstahl nochmals die legendären UFA-Studios besucht ... Bauten zu Fritz Langs Metropolis, der zum selben Zeitpunkt in den Babelsberger UFA-Studios wie der Heilige Berg entstand. ... Das war meine Lieblingsgegend, wo es keine einzige Steilwand geben durfte, die ich nicht hinaufgeklettert bin ..."

Es ist sicher kein Zufall, dass eine solche Bilderenzyklopädie der Formen totalitärer Herrschaft aus der Mitte Europas kommt. Die mentale Lage des Mitteleuropäers vergleicht György Konrád mit einem Mann, der die Augen aufschlägt und zwei Männer an seinem Bett stehen sieht, die ihm mitteilen, daß er verhaftet ist. "Du sträubst dich vergebens, die Strafe ist unausweichlich [...]. Kafkas Prozeß ist ein typisch mitteleuropäischer Roman. Er handelt davon, daß der Mensch gegenüber den anderen, gegenüber irgendeiner anonymen Macht vergebens sein Recht beteuert, seine Lage wird dadurch nur noch schlimmer. Wenn er sich selbst helfen will, dann muß er demütig akzeptieren, daß er schuldig ist, daß die höheren Organe recht haben, daß es also klüger ist, auf ihre Verzeihung zu hoffen, als zusehends verzweifelter die Unschuld zu beteuern." Zurecht stellt auch Timothy Garton Ash fest, die "genauesten, profundesten und schaurigsten Visionen des totalitären Alptraums", die absurdesten Extreme bürokratischer Herrschaft seien bei den mitteleuropäischen, kakanischen Autoren Broch, Kafka, Musil, Roth zu finden.

Das Schicksal der kleinen Länder Mitteleuropas, die sich seit Jahrhunderten von ihren Nachbarn im Westen und Osten des Kontinents in ihrer kulturellen und nationalen Identität bedroht sahen, stimulierte besondere Energien und Überlebenstechniken.


Die Geschichte der beiden litauischen Flugpioniere Steponas Darius und Stasys Girenas, die am 15. Juli 1933 um 6 Uhr 24 New Yorker Sommerzeit vom Floyd Bennett Flughafen in New York starteten und erfolgreich den Atlantik überquerten, bevor sie am 17. Juli Null Uhr 36 Berliner Zeit im damals westpreußischen Soldin 650 Kilometer vor ihrem Ziel, der damaligen litauischen Hauptstadt Kaunas, während eines Unwetters tragisch abstürzten, hat Symbolcharakter. Dass zwei gescheiterte Helden als unumstrittene Nationalheroen ihres Landes sich einer ungebrochenen Popularität in ihrem Heimatland erfreuen, ist bezeichnend für das Schicksal ihres kleinen mitteleuropäischen Landes. Wie ein heiliger Schrein birgt der Gedenkraum im Militärmuseum von Kaunas die Trümmer der einmotorigen "Lituanica" und die wenigen Habseligkeiten der Piloten. Ihre Porträts schmücken heute die 10 Litas Banknote.

Das Trauma nationaler Auslöschung steht womöglich unbewusst auch hinter dem Genom-Projekt Estlands. Das estnische Parlament beschloss am 14. Dezember 2000 mit überwältigender Mehrheit die Errichtung einer Gendatenbank, in der das Erbgut von knapp einer Million von 1,4 Millionen Esten eines Tages für die wissenschaftliche Forschung und die Pharmaindustrie verfügbar sein wird. Das, wie FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher bemerkte, ein halbes Jahrhundert lang "verschollene Land am baltischen Meer... implantiert in den internationalen Handels- und Warenverkehr einen neuen ... bislang unbekannten Rohstoff: das Erbgut, die DNS, seines Volkes ... die Software ihrer biologischen Existenz..."

John Smith, die fiktive Figur der beiden estnischen Künstler Marko Mäetamm und Kaido Ole, ist ein Gentechniker im Geiste des deutschen Idealismus, der nach langem Studium am Goethe-Institut Stuttgart von diesem in die estnische Provinzstadt Rapla entsandt worden ist, um dort die beiden Künstler als Schulbuben in einem Langzeitexperiment zu beobachten. Mit dem Entschluss der beiden Knaben, eine Rakete zu bauen, um aus ihrem Provinznest zu den Sternen aufzusteigen, wird der Traum der Avantgarde von einer das Dieseits transzendierenden Utopie zitiert, vielleicht in Anspielung auf Ilya Kabakows Installation The Man who flew into space from his apartment (1986), die dokumentiert, wie Kabakovs Moskauer Atelier-Nachbar im Haus Sretensky Boulevard 6/1 durch ein Loch im Dach sich mit Hilfe eines Katapultes ins "Jenseits" beförderte.

Der estnische Künstler Marko Laimre schwebt dem Ausstellungsbesucher zu den Klängen des Hochzeitmarsches im Brautkleid über die mit EU-Mitteln sanierten Landstraßen seiner Heimat entgegen. Laimre erinnert die Vereinigung seines Landes mit der EU an eine Art Hochzeitszeremonie. Allerdings ist die Braut offensichtlich traumatisiert durch ihr historisches Gedächtnis, in das sich die Angsterfahrungen der vergangenen gewaltsamen Vereinigungen beziehungsweise Vergewaltigungen eingebrannt haben. Der Künstler vermutet eine genetische Krankheit und vermisst die Antikörper zur Milderung des Fiebers. Hinter dem schönen Schein lauert der Fieberwahn: E.U.Positive.

Seine Diagnose der Gegenwart wird von vielen seiner Kollegen geteilt. Ohne die bewährten Zukunftsvisionen, die der Kommunismus und andere patriotische, nationalistische oder katholische Ideologien boten, ist alles offen, nichts sicher. Die visuellen Diskurse in allen Medien zeitgenössischer Kunst in Osteuropa kommentieren den Umbruch eher als Abbruch, denn als Aufbruch. Sie öffnen uns damit die Augen für den doppelbödigen Alltag in den postsozialistischen Ländern und die surrealen Aspekte des Transformationsprozesses: "Manchester-Kapitalismus", Migrationsströme, ethnische Minderheiten, poststalinistische Strukturen und Mentalitäten. Die Künstler wehren sich gegen eine allverzehrende Medien- und Konsumgesellschaft, in der auch Geschichte zum frei zitierbaren Zeichenarsenal auf T-Shirts und in der Pop-Musik geworden ist.

Nur in einem scheinbaren Widerspruch zur Standorts- und Identitätssuche steht der fast ausschließliche Gebrauch der englischen Sprache für Werktitel, Zitate in den Arbeiten der mittel- und osteuropäischen Künstler. Dies ist nicht der modische Ausdruck gewollter Internationalität, sondern nüchterne und realistische Einschätzung der eigenen Chancen auf dem bereits seit langem globalisierten, internationalen Kunstmarkt. Eine Schriftarbeit des serbischen Künstlers xxx bringt das Problem auf den Punkt - natürlich auf Englisch - "An artist who does not speak English is not an artist".

Parallel zur Globalisierung der Informationen, Finanzmärkte und des Güteraustausches sind die Kunststandards und die entsprechende kulturelle Infrastruktur der Kunstinstitutionen, der Kunstkritik, des Kunstmarktes (Galerien, Art Consultants, Sammler), die über die Zulassung, Bewertung, Einordnung neuer Künstler und Werke bestimmen, in amerikanischer und westeuropäischer Hand. Tröstlich ist dabei nur, dass der Kunstmarkt als großer Nivellierer ideologisch und moralisch neutral ist. Diese "Alchemie des Marktes" (Walter Grasskamp) wird dafür sorgen, dass auf dem Kunstmarkt zusammenwächst, was nicht zusammengehört.

Matthias Flügge, Vizepräsident der Akademie der Künste, und Eckhart Gillen vom Museumspädagogischen Dienst des Landes Berlin, 1997 einer der Kuratoren der Ausstellung Deutschlandbilder im Berliner Gropiusbau, bereisten im Frühsommer mehrere Wochen Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Das Ergebnis ihrer Kunstrecherche wird ab dem 18. September bis zum 7. November 2004 unter dem Titel E.U.positive-Kunst aus dem alten Europa in der Akademie der Künste in Berlin zu sehen sein. Der hier abgedruckte Aufsatz ist eine leicht gekürzte und modifizierte Fassung des Textes, der in einer begleitenden Ausstellungszeitung erscheinen wird.


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