Das Ende ist nah. In acht Jahren, 2029, wird die Weltordnung, wie wir sie heute kennen, Geschichte sein. Ein Blackout wird zu Jahrzehnten von Chaos und Anarchie führen. An die Stelle von Nationalstaaten werden unzählige Stämme und Mikro-Unionen treten mit ihren ganz eigenen Kulturen, politischen Agenden und Ideologien. Was wie der feuchte Traum mancher Euroskeptiker und Regionalfürsten klingt, ist die Prämisse der Netflixserie Tribes of Europa, einer der aufwendigsten deutschen Fernsehproduktionen seit Menschengedenken. Oder zumindest seit Babylon Berlin.
Die sechs Episoden der ersten Staffel, die ab dem 19. Februar zu sehen sind, spielen im Jahr 2074 und etablieren schnell ein Universum unterschiedlichster Gruppierungen. Sie werden „Tribes“ genannt, was zwar nicht ganz so aufs Archaische reduzierend klingt wie der deutsche Begriff „Stämme“, aber am Ende auf etwas Ähnliches hinausläuft: die Abgrenzung von Anderen, die man als minderwertig oder gefährlich betrachtet und gegen die es in jedem Fall die Reinheit der eigenen Kultur zu verteidigen gilt.
Serienerfinder und Showrunner Philipp Koch schickt dazu drei Geschwister als Helden ins Rennen, die jedes auf eigene Art als Identifikationsfigur taugen. Sie gehören den „Origines“ an, die im technologischen Fortschritt den Grund allen Übels sehen und zurückgezogen friedlich im Einklang mit der Natur leben. Als in ihrer Nähe ein futuristisches Flugzeug der „Atlantier“ abstürzt, wähnt ein dritter Tribe, die kriegerischen „Crows“, im Wrack einen Cube, eine Art von hochtechnologischem Zauberwürfel, der eine Botschaft enthält, die über das Schicksal der ganzen Welt entscheidet.
Beim Angriff auf das Dorf der „Origines“ wird Kiano (Emilio Sakraya) gefangen genommen, während sein kleiner Bruder Elja (David Ali Rashed) im letzten Moment mit dem Cube fliehen kann. Der sterbende Atlantier-Pilot hatte ihn ihm übergeben mit dem Auftrag, ihn zurückzubringen, um so die Menschheit zu retten. Die Schwester der beiden, Liv (Henriette Confurius), überlebt den Überfall schwer verletzt und wird von einem Elitesoldaten der Crimsons (Robert Finster) gerettet, die ein Überbleibsel der Eurocorps sind und als militärische Schutzmacht für sich beanspruchen, die Zivilisation in Europa aufrechtzuerhalten.
In jugoslawischen Ruinen
So rasant die Serie inszeniert ist, lässt sie sich erstaunlich Zeit, diese Welt zu etablieren und das Netzwerk ihrer unterschiedlichen Kräfte aufzufächern. Darin liegt der große Reiz dieser Serie: im politischen Ränkespiel zwischen den Tribes, die alle eigene Zwiespältigkeiten besitzen und in kein simples Gut-Böse-Schema aufzuteilen sind. Dementsprechend reizvoll sind ihre bis ins Detail erschaffenen Universen, bei denen Schauwerte und Ausstattung eine große Rolle spielen und nur behutsam auf Computer Generated Imagery zurückgegriffen wurde. So findet sich das Spektakuläre oft in bereits vorhandener Ostblock-Architektur, wie den Ruinen der retrofuturistischen Gedenkstätte des jugoslawischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg im kroatischen Petrova Gora, das hier als Headquarter der Crimsons eingesetzt wird, oder diversen Gebäuden in Tschechien.
Der Plot folgt in Parallelsträngen den Überlebenskämpfen der drei Geschwister, die sich in Ästhetik und Tonfall stark unterscheiden. Kiano gerät in einem postapokalyptischen Neo-Noir-Berlin, das die Crows nun Brahtok nennen und zu einer regelrechten Partyhölle umfunktioniert haben, in die Fänge der Anführerin Varvara (Melika Foroutan), die ihn zu ihrem neuen Sexsklaven dressiert. Liv versucht unterdessen sich von der Crimson Republic dorthin durchzuschlagen, während Elja auf einen sprücheklopfenden Söldner (Oliver Masucci) trifft und mit ihm Abenteuer besteht, die mit dem klamaukigen Buddykomödienhumor als Gegengewicht funktionieren sollen.
Doch trotz mancher Holprigkeit und bisweilen falscher Töne ist die klare Handschrift eines Showrunners erkennbar, der eine ganz eigene Genrewelt erschaffen hat, die vielleicht durch die Nutzerforschung des Streamingriesen optimiert, aber sicher nicht durch öffentlich-rechtliche Gremien und Bedenkenträger verwässert wurde.
Und auch wenn die Serie sich vor allem an „Young Adult Dystopia“-Fans wendet, die sich auch für Dark und Stranger Things begeistern oder, in einer anderen Zeitrechnung, für jeden neuen Teil der Hunger Games die Kinos stürmten, ist Tribes of Europa letztlich eine Auseinandersetzung mit politischen Gedankenspielen, die zwar ins Fantastische überhöht, aber doch einen gar nicht so irrealen Kern haben. Der Mob aus Reichsbürgern und Trumpisten, der am 6. Januar das Kapitol in Washington D.C. stürmte, lässt mit seiner verqueren Ideologie, radikalen Agenda und nicht zuletzt mit der teils archaisch anmutenden Kostümierung Ähnlichkeiten erkennen, als die Serie längst abgedreht ist.
Es wird spannend sein, zu sehen, wie in den folgenden Staffeln, die dramaturgisch bereits angelegt sind, aber deren Produktion noch nicht bestätigt ist, diese auch an separatistische Strömungen in Europa – von Katalonien bis Schottland – erinnernden Stammesfehden weiter ausdifferenziert werden und die Krise der pluralistischen Demokratie wie der EU im Deckmantel einer Genreproduktion mit hohem Bingepotenzial einer jungen Generation näherbringt. Das Ende jedenfalls, so viel sei verraten, ist offen, es besteht nicht aus nur einem Cliffhanger, sondern gleich aus mehreren.
Info
Tribes of Europa Philip Koch Deutschland 2021, 6 Folgen, Netflix
Kommentare 6
Europa droht zur grössten Weltuntergangssekte der Welt zu werden. Keine positiven Visionen von der Zukunft, kaum Innovationen und schon gar kein Glaube mehr an eine bessere Welt. Ursula von der Leyen schwadroniert z. B. schon etwas von einem Pandemiezeitalter, dass da am Horizont aufziehen soll. Obwohl die Coronakrise noch gar nicht abgeschlossen ist. In Europa sowieso nicht. Und ein abtretender Redaktor vom Schweizer Fernsehen ist überzeugt davon, dass die Coronakrise „reinstes Nasenwasser ist gegen den Klimawandel.“ Damit outet er sich unfreiwillig als distincion rebel. Wahrscheinlich träumt‘s ihm nach der Pension von einer Existenz als „Prepper“, irgendwo am Matterhorn oben. Oder ganz profan im Garten seines Einfamilienhäuschens. Sergeant Prepper’s Lonely Heart’s Club Band. Insofern passt diese Serie ganz gut zu diesem entrückten Europa.
Ich würde die Serie nicht zu ernst veranschlagen – Fantasy- und Star-Wars-Elemente wild gemixt, die genreüblichen Helden. Läuft letztlich auf Winnetou und Old Shatterhand fürs 21. Jahrhundert hinaus. »Young Adult Dystopia« scheint mir das sinngebende Stichwort zu sein. – Warum nicht? Bei Lex Barker und Pierre Brice anno dazumal hat man auch nicht gedacht, in einem sozialrealistischen Western zu sitzen. Ansonsten: Die Leute haben derzeit eh nicht viel zu lachen.
"aufwendigsten deutschen Fernsehproduktionen seit Menschengedenken"? Mag sein, ich bin allerdings schon beim Trailer eingeschlafen...
Zwischen Nibelungen und Europäischer Endzeitfantasien. Die Extreme jagen sich. Gibt es keinen anständigen deutschen Film mehr?
Da lob ich mir den feinfühligen französischen Film, beispielsweise "Birnenkuchen mit Lavendel"...
»Zwischen Nibelungen und Europäischer Endzeitfantasien« – so ähnlich würde ich es ebenfalls formulieren.
Bemerkenswert ist der Trick, wie die einzelnen Folgen von circa 38 auf circa 45 Minuten Länge hochgetunt wurden: Der Abspann mit den Credits – weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund, unterlegt mit Synthie-Sound – dauert 7 1/2 Minuten. Hochgerechnet haben die famosen Macher(innen) dieser Miniserie so eine komplette Folge eingespart. Auf die Idee muß man erst mal kommen.
Ich habe die ersten beiden Folgen "Tribes of Europe" geschaut und dann habe ich es trotz viel "good will" nicht mehr ertragen. Jede Menge Klischees und Abziehbilder, da fehlt eindeutig die Stillsicherheit des Showrunners und der anderen Headkreativen.
Das war auch bei "Berlin Babylon" so, wo die ersten 5 Folgen nur Exposition waren und die Story erst in Folge 6 losging, in "Dark" waren auch die ersten 3 Folgen unerträglich, die man überstehen musste, bevor man reingezogen wurde.
Viel Geld hilft nicht immer viel. Die Kreativen sind durch jahrzehntelanges Arbeiten fürs deutsche Fernsehen, mit zu knappen Budgets und Einflussnahme beschränkter Redakteure, amputiert. Die müssen erst wieder gehen lernen und eine Stilsicherheit entwickeln. Da hat leider HBO & CO immer noch eine ziemlichen Vorsprung.