Die Wundertäter sind unter uns

Aufschwung-Kampagne Wie euphorische Kommentare über die deutsche Wirtschaft und geschönte Arbeitsmarktzahlen in die Irre führen

Jüngst entdeckte der Spiegel (Ausgabe 17/07 vom 23. April) unter der Überschrift Wirtschaftswunder 2.0 "die Kraft des deutschen Aufschwungs", der die Arbeitslosigkeit schneller sinken lasse und mehr Geld in die Staatskassen spüle "als alle früheren Konjunktur-Erholungen in der Geschichte der Republik". Das Fazit lautete: "Und überall das gleiche bunte Bild: es brummt wie lange nicht mehr."

Tatsächlich hat der Aufschwung Teile unserer Volkswirtschaft erfasst, vor allem die Exportwirtschaft und die Investitionsgüterindustrie, doch von "überall das gleiche bunte Bild" kann keine Rede sein. Die auf den Binnenmarkt konzentrierte Industrie, der Einzelhandel, kleine und mittlere Handwerksbetriebe sowie die Gastronomie spüren von einem richtigen Aufschwung wenig. Und bei einer Mehrheit der Arbeitnehmer oder Rentner ist er überhaupt noch nicht angekommen - jedenfalls nicht in der Lohntüte.

Und überhaupt, gemessen an den realen Wachstumsraten ist dieser Aufschwung weder bemerkenswert, noch besonders stark. Mit 2,7 Prozent Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 2006 und geschätzten jeweils 2,4 Prozent 2007 und 2008 wird nur unteres Mittelmaß erreicht. In Ländern, die in den neunziger Jahren ihre Wirtschaftsschwächen überwunden haben wie Schweden, die USA zu Clintons Zeiten oder Spanien, sind über mehrere Jahre Wachstumsraten von rund vier Prozent erreicht worden. Selbst beim Vergleich mit anderen Phasen der Wirtschaftsbelebung in Deutschland stellt man fest, dass die Euphorie über die einzigartige "Kraft" der jetzigen Konjunktur nicht begründet ist: Selbst beim letzten kleinen Boom in den Jahren 1997 bis 2000 wurde mit 3,2 Prozent Wachstum ein höherer Spitzenwert (s. Übersicht unten) erreicht als heute. Beim Aufschwung 1988 und 1989 waren es 3,7 und 3,6 Prozent und dann - verstärkt von der deutschen Vereinigung - noch einmal 5,7 und 5,0 Prozent.

Jedenfalls werden wir mit einem realen Wachstum von etwa 2,4 Prozent 2007 und 2008 die Schwäche unserer Volkswirtschaft nicht überwinden. Zur Begründung brauche ich nur daran zu erinnern, wie die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität 2006 aussah: 1,9 Prozent. Wenn in diesem und im nächsten Jahr wieder ein ähnlicher Wert erreicht wird, bleibt bei einem Wachstum von nur 2,4 Prozent volkswirtschaftlich betrachtet nicht viel "Kraft" für den Beschäftigungsaufbau.

Insofern erscheint es fraglich, ob es die jüngsten Arbeitsmarktstatistiken aus Nürnberg verdienen, gefeiert zu werden. Zur Verringerung der Jobsuchenden um 900.000 wäre immerhin anzumerken: Mehrere hunderttausend sind seit März 2006 aus der Bilanz hinausbugsiert worden, weil sie in Minijobs, in Qualifizierungs- oder Trainingsmaßnahmen oder in so genannten Arbeitsgelegenheiten gelandet sind. Oder weil für sie eine "vorruhestandsähnliche" Regelung gilt. Sicher gibt es eine konjunkturelle Belebung, die sich auf dem Arbeitsmarkt niederschlägt, aber allein wegen der hohen Zahl der verbleibenden Arbeitslosen besteht kein Anlass zu Euphorie.

Kommentatoren und Schlagzeilenmacher sind sich dennoch überwiegend einig, endlich gehe es aufwärts in Deutschland. Der Aufschwung gewinne an Fahrt und habe auch den Arbeitsmarkt erreicht. Kontrovers diskutiert wird lediglich, ob augenblicklich die Früchte aus Schröders oder schon aus Merkels Reformen geerntet werden.

Warum gelten 2,5 Millionen Menschen mit ALG II nicht mehr als Arbeitslose?

Ein genauerer Blick in den kompletten Bericht der Nürnberger Arbeitsagentur für März 2007 führt zu erheblichen Irritationen. In diesem Monat war die Zahl der registrierten Arbeitslosen gegenüber dem Vormonat um 114.000, saisonbereinigt immerhin noch um 65.000, gesunken. Sie lag bei 4,108 Millionen; gegenüber den Zahlen von März 2006 sollte es eine Abnahme um 869.000 gegeben haben. Im Monatsbericht wird darauf hingewiesen, dies sei auf die gestiegene Zahl der Erwerbstätigen zurückzuführen. Doch zeigt sich hier eine auffällige Differenz: Es sind fast 300.000 mehr aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden, als in der Zahl der Erwerbstätigen als Zunahme wieder auftauchen. Eine Erklärung dafür findet sich mit dem Hinweis der Bundesagentur, wonach sie "die systematische Überprüfung des Arbeitslosenstatus von Arbeitslosengeld II-Empfängern" verstärkt habe. Im Ergebnis fallen dann nicht nur Unterstützungszahlungen nach Hartz IV weg - wenn sich die Betroffenen nicht mehr melden, werden sie auch aus der Statistik entfernt. Ähnlich ergeht es jenen, die in die Selbstständigkeit als Ich-AGler gedrängt oder zur Annahme von Minijobs gezwungen werden. Sobald jemand 15 Wochenstunden arbeitet, zählt er nicht mehr als arbeitslos, obwohl in der Regel weiterhin Anspruch auf Leistungen nach Hartz IV besteht.

Noch größer werden die Irritationen beim Blick auf die Gesamtzahlen. So soll es im März 2007 noch 1,342 Millionen Empfänger von Arbeitslosengeld I (ALG I) gegeben haben, aber als "arbeitslos" aus dieser Gruppe galten nur 1,020 Millionen. Dazu heißt es: Alle, die beispielsweise "vorruhestandsähnliche Regelungen" in Anspruch nähmen, würden nicht mehr mitgezählt (die betroffenen Älteren müssen ja erklären, dass sie dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehen). Aus der Statistik fielen auch jene heraus, die sich "in einer Trainingsmaßnahme" (veranlasst durch die Arbeitsagentur) befanden. Dank dieser Zählweise wurden schon unter Rot-Grün die Arbeitslosenzahlen statistisch verschönert.

Ähnliches geschieht bei der statistischen Erfassung der Empfänger von Arbeitslosengeld II (ALG II): Ausgewiesen für März 2007 wurden 5,194 Millionen. Ihre Zahl war damit gegenüber März 2006 sogar um 35.000 gestiegen. Aber als "arbeitslos" erschienen davon nur 2,634 Millionen. Warum wurden die übrigen 2,560 Millionen - fast die Hälfte - nicht mitgezählt? Als statistische Ausschluss-Gründe nennt die Arbeitsagentur "Schulbesuch" (erwünscht), "die Beschäftigung in einer Arbeitsgelegenheit" (Ein-Euro-Jobber), "die Teilnahme an einer Qualifizierungsmaßnahme", "die Betreuung kleiner Kinder oder Angehöriger". Korrekt wäre es, nur die letzte Gruppe heraus zu rechnen, denn alle anderen sind auf der Suche nach einer Beschäftigung und müssen in der Regel ihre "Qualifizierungsmaßnahmen" abbrechen, sobald es ein Arbeitsangebot gibt. Warum gelten sie nicht mehr als "Arbeitslose"?

Die Bundesagentur addiert korrekt die Zahlen der Empfänger von ALG I und II für März und bilanziert: "Alles in allem bekamen damit 6.427.000 erwerbsfähige Menschen Lohnersatzleistungen." Da kann doch niemand aus der Regierung oder der Phalanx der Meinungsmacher in den Medien ernsthaft behaupten, er wisse nicht, dass sehr viel mehr in diesem Lande ohne ausreichenden Job sind als die offiziell benannten 4,108 Millionen im März oder 3,967 Millionen im April. Die Nürnberger Behörde hat über sechs Millionen erfasst. Fachleute schätzen, dass tatsächlich sieben bis acht Millionen Menschen auf der Suche nach einer Beschäftigung sind, von der sie leben können.

Es bleibt als Fazit, analysiert man bei einem Monatsbericht der Bundesagentur für Arbeit die Zahlen in ihrer Gesamtheit, ergibt sich daraus eine profunde Aussage über die wirklichen Verhältnisse im so genannten Wirtschaftswunderland.

Wollen wir andere Volkswirtschaften für immer von den Märkten verdrängen?

Bekanntlich wird die bei den Lohnabschlüssen der vergangenen Jahre geübte Zurückhaltung ausdrücklich als Katalysator des Aufschwungs gefeiert. Diese Abstinenz habe dazu geführt, heißt es, dass die Lohnstückkosten sanken (s. Übersicht unten).

Richtig ist zweifellos, dass die Stagnation der Löhne in Deutschland zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit beigetragen hat. Aber das ist aus vielerlei Gründen keine Lösung unserer wirtschaftlichen Probleme. Erstens wird dadurch die Wettbewerbsfähigkeit wichtiger EU-Partner beeinträchtigt, was auf Dauer jedenfalls in einem gemeinsamen Währungsraum nicht geht und auf uns zurückschlagen muss. Zweitens haben die Löhne eine Doppelfunktion. Stagnieren sie weiter, wird die Schwäche der Binnennachfrage noch verschärft und das so genannte Wirtschaftswunder bleibt eine sehr einseitige Angelegenheit.

Schlicht falsch ist die Aussage, dass bei einer Rückkehr zu normalen Lohnabschlüssen, also etwa vier Prozent (gleich zirka zwei Prozent Lohnstückkostenzuwachs angesichts einer zu erwartenden Produktivitätssteigerung von etwa zwei Prozent) die Wettbewerbsfähigkeit leiden würde. Nein, bei derartigen Lohnabschlüssen bliebe die extrem hohe Wettbewerbsfähigkeit sehr wohl erhalten - sie würde nur nicht weiter erhöht, weil im Rest der Welt die Lohnstückkosten auch um zwei Prozent steigen. Genau wegen dieses Sachverhalts ist es unumgänglich, dass in Deutschland die Löhne wieder normal steigen. Oder wollen wir alle anderen für immer von den Märkten verdrängen und dann Transfers für ihre herunter konkurrierten Volkswirtschaften zahlen wie seit 1990 nach Ostdeutschland, damit sie unsere unschlagbaren Güter kaufen können?

Im eingangs zitierten Spiegel-Text wird mit Nachdruck behauptet, die Mehrwertsteuererhöhung sei verdaut. Die Bundesbank sieht das in ihrem Monatsbericht vom April allerdings anders. Nach ihrer Einschätzung hat die höhere Mehrwertsteuer Konsum und Wachstum gedämpft. Man könnte noch weitergehen und sagen: Gerade diese Steuererhöhung hat verhindert, dass mehr als ein mittelmäßiges Wachstum möglich wurde. Denn tatsächlich bestraft sie die auf den Binnenmarkt orientierte Wirtschaft und fördert wegen der Entlastung der Ausfuhren die Exportwirtschaft. Genau das Gegenteil dessen, was wir heute brauchen.

Warum überhaupt versuchen der Spiegel wie auch andere Medien in diesem Land, der jetzigen Wirtschaftsbelebung eine besondere Qualität und Quantität, ja sogar den Charakter eines Wirtschaftswunders zuzuschreiben? Das Motiv liegt auf der Hand: Es soll ein Zusammenhang zwischen Reformen und Wirtschaftsbelebung hergestellt werden. Hätte der Aufschwung keine besondere Qualität, würde er sich nicht von den Aufschwüngen aus Zeiten vor den Reformen, vor der Agenda 2010, unterscheiden - dann könnten die Reformen nicht als Ursache hochgejubelt werden. Also wird die gewünscht Kausalität konstruiert, in diesem Fall durch Übertreibung der ökonomischen Erholung.

Es ist dabei äußerst aufschlussreich, wie ausgerechnet Kanzlerin Merkel zu Wundertäterin im Wirtschaftswunderland hochgeschrieben wird. "Aufmerksam wird die neue deutsche Dynamik unter Regierungschefin Angela Merkel im Ausland registriert", meint der Spiegel und zitiert dann die Financial Times aus London mit deren Empfehlung des neuen deutschen Wirtschaftswunders "als Vorbild für weniger dynamische Volkswirtschaften wie Frankreich oder Italien". - Wer auch nur einen Hauch von Gedächtnis bemüht, dem müsste einfallen, dass die gleiche Regierungschefin ihr und unser Land noch im Juni 2006 einen "Sanierungsfall" nannte. Was hat es seither an zukunftsweisenden Reformen gegeben, die aus dem "Sanierungsfall" ein "Wirtschaftswunderland" werden ließen? Mir ist keine bekannt.

Wichtige Hinweise zum Text verdanke ich Heiner Flassbeck und Dieter Staadt.

Der Autor ist Herausgeber der NachDenkSeiten.de.

Von ihm sind zuletzt die Bücher erschienen: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren. Droemer-Verlag 2004; 19,90 Euro; jetzt aktualisiert als Taschenbuch bei Knaur für 8,95 Euro / Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet. Droemer Verlag 2006, 19,90 Euro.


Bruttoinlandsprodukt 1996-2006

(preisbereinigt/Veränderung zum Vorjahr in Prozent)

199619971998199920002001

+ 1,0+ 1,8+ 2,0+2,0+ 3,2+ 1,2

20022003200420052006

0,0- 0,2+ 1,2+ 0,9+ 2,5*

(*) später auf + 2,7 % korrigiert

Quelle: Statistisches Bundesamt, 11.1.2007


Arbeitslosenquote / Lohnstückkosten 2003-2007

(Jahresdurchschnitt bzw. Veränderung zum Vorjahr in Prozent)

2004200520062007*

Arbeitslosenquote10,111,210,49,9

Arbeitslose in Mill.4,384,864,524,30

Lohnstückkosten- 0,4- 1,1- 1,2+0,2

* Prognose der sechs führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute


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