Die X-Akten der Zeitgeschichte

Kurras/Luxemburg Kurras, ein Agent der DDR, der Wirbel um Rosa Luxemburgs Leiche: Nein, die Geschichte muss nicht umgeschrieben werden, sie muss ganz einfach geschrieben werden

Zwei Funde mit Sensationscharakter: Erst entlarven Akten den Polizisten, der 1967 die tödlichen Schüsse auf Benno Ohnesorg abfeuerte, als Agenten der DDR. Nur wenige Tage später findet ein Rechtsmediziner im Keller der Berliner Charité eine kopflose Leiche, die er für den Körper von Rosa Luxemburg hält. Die Dramaturgie der Enthüllungen erinnert mehr an einen Plot vom Schlage Akte X oder Da Vinci Code als an Erkenntnisse über die Zeitgeschichte.

Doch genau darum handelt es sich. Die historischen Ereignisse, die beiden Funden zugrunde liegen, ragen bis in die Gegenwart hinein. Und sie prägen unmittelbar das politisch-historische Selbstverständnis von Teilen der deutschen Linken. Der Lärm der Jubiläumsfeierlichkeiten für die Revolte von 1968 ist kaum verklungen, da reißt der spektakuläre Aktenfund neue, abenteuerlich anmutende Assoziationsräume auf: Wenn der Polizist, der Ohnesorg erschoss, ein linientreuer DDR-Kommunist war – welche Bedeutung hat das dann für seine Tat?

Und was würde es bedeuten, wenn sich der Verdacht erhärten würde und es sich bei der unbekannten Wasserleiche tatsächlich um Rosa Luxemburg handelte? Nicht nur ist deren Begräbnisstätte einer der zentralen Gedächtnisorte der ostdeutschen Linken. In das Kompendium Deutsche Erinnerungsorte hat man Rosa Luxemburg selbst als einen deutschen lieu de mémoire aufgenommen. Der Metaphorik des von der französischen Historiographie geprägten Begriffes folgend hat der Körper der toten Revolutionärin demnach eine geradezu topographische Bedeutung für das nationale Gedächtnis der Bundesrepublik. Nun regt sich der Verdacht, dass man ihn - unter konservatorisch sowie ethisch fragwürdigen Lagerungsbedingungen – schlichtweg in der Abstellkammer der Geschichte vergessen hat.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt in weiten Zügen als geschrieben. Gestritten wird vor allem um ihre Interpretation. Vor kurzem legte der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler mit dem fünften Band seiner ziegelsteindicken Deutschen Gesellschaftsgeschichte eine Art Schlussstein in das Mauerwerk einer Geschichtsbetrachtung, die Prozessen und Strukturen den Vorrang vor dem Ereignis gab. Nicht Ereignisse sind dieser Lesart zufolge die treibende Kraft der Geschichte, sondern allmähliche Prozesse. Die beiden Funde lenken nun den Blick von den Statistiken und Tabellen plötzlich wieder auf konkrete Ereignisse: auf Taten, Täter, Opfer, mithin auf den historischen Augenblick.

Dass die Akten selbst prominenter Akteure der Zeitgeschichte bei weitem nicht so gut ausgewertet sind, wie man es am Beginn des 21. Jahrhunderts erwartet hätte, mag für viele die eigentlich überraschende Neuigkeit aus dem Archiv sein. Historiker weisen jedoch schon länger darauf hin, dass die Stasi-Unterwanderung westlicher Institutionen kaum aufgearbeitet ist.

Nein, die Geschichte muss deshalb nicht umgeschrieben werden, wie bei solchen Gelegenheiten gerne gefordert wird. Sie muss ganz einfach geschrieben werden. Dafür braucht es die Bereitschaft der Institutionen, sich mit ihrer eigenen Unterwanderung auseinanderzusetzen. Dazu gehören nicht nur Gewerkschaften und Parteien, sondern auch Regierungsorgane wie der Bundestag oder eben die Polizei. Die DDR, so dämmert allmählich herauf, war eben doch weit mehr als bloß eine Fußnote der Geschichte der Bundesrepublik. Aber nicht nur sie, im Keller der bundesrepublikanischen Geschichtsvergessenheit dürften noch mehr Leichen liegen.



Bodo Mrozek, Journalist und Historiker, ist derzeit Fellow am Deutschen Historischen Institut London

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