Die Zahlungsfähigkeit ist in Frage gestellt

Dokumentation Analyse der ökonomischen Lage der DDR vom 27. 10. 1989 (Schürer-Papier)

Unmittelbar nach Übernahme der Amtsgeschäfte als SED-Generalsekretär hatte Egon Krenz den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission der DDR, Gerhard Schürer, beauftragt, in einem Bericht ein "ungeschminktes Bild der ökonomischen Lage der DDR" zu geben. Im folgenden einige Auszüge dieses Dokuments.

Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität liegt die DDR derzeit um 40% hinter der BRD zurück. Im Einsatz des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens sowie der zur Verfügung stehenden Ressourcen besteht ein Mißverhältnis zwischen dem gesellschaftlichen Überbau und der Produktionsbasis.

Die Verschuldung im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet ist seit dem VIII. Parteitag gegenwärtig auf eine Höhe gestiegen, die die Zahlungsfähigkeit der DDR in Frage stellt. (...)

Zu Lasten der Versorgung

Die Auswirkungen des Rückgangs der Akkumulationsrate von 29% im Jahre 1970 auf 21% laut Plan 1989, die ausschließlich zu Lasten der produzierenden Bereiche gegangen ist, sind schwerwiegender als bisher eingeschätzt.

Die Rate der Akkumulation für produktive Investitionen ging von 16,1% 1970 auf 9,9% 1988 zurück. Der Anteil der Akkumulation in den nichtproduzierenden Bereichen einschließlich Wohnungsbau ist seit den 70er Jahren mit einem Anteil von etwa 9% gleichgeblieben.

Während die Akkumulation in den produzierenden Bereichen im Zeitraum 1970 - 1988 auf 122% stieg, erhöhten sich die Investitionen im nichtproduzierenden Bereich einschließlich Wohnungsbau auf 200%. Dabei sind durch die Konzentration der Mittel auf den Wohnungs- und Gesellschaftsbau bestimmte, für die Versorgung der Bevölkerung wichtige Bereiche, wie das Gesundheitswesen, vernachlässigt worden. (...)

Mehr Geld als Waren

Im Zeitraum seit dem VIII. Parteitag wuchs insgesamt der Verbrauch schneller als die eigenen Leistungen. Es wurde mehr verbraucht als aus eigener Produktion erwirtschaftet wurde zu Lasten der Verschuldung im NSW (*), die sich von 2 Mrd. VM (**) 1970 auf 49 Mrd. VM 1989 erhöht hat. Das bedeutet, daß die Sozialpolitik seit dem VIII. Parteitag nicht in vollem Umfang auf eigenen Leistungen beruht, sondern zu einer wachsenden Verschuldung im NSW führte.

Hinzu kommt, daß das Tempo der Entwicklung der Geldeinnahmen der Bevölkerung höher war als das des Warenfonds zur Versorgung der Bevölkerung. Das führte trotz eines hohen Niveaus der Versorgung zu Mangelerscheinungen im Angebot und zu einem beträchtlichen Kaufkraftüberhang. (...)

Zinsen in Milliardenhöhe

Aus der schnelleren Entwicklung der Nettogeldeinnahmen gegenüber den Warenfonds zur Versorgung der Bevölkerung ergibt sich im Zeitraum 1986 - 1989 ein aktueller, direkt auf den Binnenmarkt wirkender Kaufkraftüberhang von 6,0 Mrd. Das entspricht etwa dem Zuwachs der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung eines ganzen Jahres. Die Spareinlagen einschließlich Versicherungssparen erhöhten sich von 136 Mrd. M 1985 auf 175 Mrd. M Ende 1989. Das Wachstum beträgt damit durchschnittlich jährlich 6,5%.

Die Zinszahlungen an die Bevölkerung betragen 1989 voraussichtlich 5 Mrd. M. Das ist mehr als der gesamte Jahreszuwachs des Warenfonds im Jahre 1989. Das Wachsen der Spareinlagen ist einerseits Ausdruck des Vertrauens der Bevölkerung zur gesellschaftlichen Entwicklung und des Wunsches, mit wachsendem Lebensstandard über persönliche Reserven zu verfügen, hängt aber andererseits zum Teil mit nicht realisierbaren Kaufwünschen ... zusammen (PKW, HiFi-Anlagen u.ä.). (...)

Um 25 bis 30 Prozent weniger Konsum

Bei der Einschätzung der Kreditwürdigkeit eines Landes wird international davon ausgegangen, daß die Schuldendienstrate - das Verhältnis vom Export zu den im gleichen Jahr fälligen Kreditrückzahlungen und Zinsen - nicht mehr als 25% betragen sollte. Damit sollen 75% der Exporte für die Bezahlung von Importen und sonstigen Ausgaben zur Verfügung stehen. Die DDR hat - bezogen auf den NSW-Export - 1989 eine Schuldendienstrate von 150%.

Die Lage in der Zahlungsbilanz wird sich nach dem erreichten Arbeitsstand zum Entwurf des Planes 1990 weiter verschärfen. Der "Sockel" wird bei einem NSW-Exportüberschuß von 0,3 - 0,5 Mrd. VM auf ca. 57 Mrd. VM Ende 1990 ansteigen. Die Kosten und Zinsen betragen 1990 insgesamt über 8 Mrd. VM.

Wenn der Anstieg des "Sockels" verhindert werden soll, müßte 1990 ein Inlandsprodukt von 30 Mrd. M aufgewendet werden, was dem geplanten Zuwachs des Nationaleinkommens von 3 Jahren entspricht und eine Reduzierung der Konsumtion um 25 - 30% erfordert.

Zwischenüberschriften von der Redaktion

(*) Nicht-Sozialistisches Wirtschaftsgebiet

(**) Valutamark


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