Am 28. September gaben zwischen 200.000 und 400.000 Menschen auf den Straßen Londons Premierminister Blair zu verstehen, dass sie mit Bushs "Präventivkrieg" gegen den Irak nichts zu tun haben wollen. Eine Woche später marschierten etwa 500.000 bei Anti-Kriegsdemonstrationen durch 120 italienischen Städte.
Alle, die aus moralischen oder rechtlichen Gründen oder (auch nur) aus Eigeninteresse gegen einen Krieg im Irak sind, sollten jetzt auf die Straße gehen. Nur über Massenproteste kann es noch gelingen, Amerika davon abzubringen, die Regeln des internationalen Rechts zu verstümmeln. Auch wenn die Falken in der US-Administration entschlossen scheinen, den Krieg allein zu führen, versteht doch eine pragmatische Mehrheit in Washington: ein rigides V
rigides Verprellen der Weltgemeinschaft läge keineswegs im Interesse der USA. Globale Dominanz ist auch davon abhängig, dass eine strukturelle neoliberale Hegemonie, wie sie nach 1990 entstanden ist, konserviert wird. Mit anderen Worten, Amerika braucht als Vormacht in der Welt nicht allein einen uneinholbaren militärischen Vorsprung, sondern auch den globalen Konsens, dass der neoliberale Kapitalismus amerikanischer Prägung das beste Modell sozioökonomischer Organisation ist.Vor dem 11. September 2001 konnte man von den Sprechern eines mittlerweile breit gefächerten globalisierungskritischen Netzwerks die entmystifizierende Formel hören: "Der Kaiser hat ja gar nichts an", doch hätte es niemals gereicht, für die "Möglichkeit einer besseren Welt" nur zu argumentieren. Es bedurfte solcher Ereignisse wie der "Schlacht um Seattle" beim WTO-Gipfel 1999 oder der "Belagerung von Genua" 2001, um Kritik am Neoliberalismus auf die Stufe einer wirksamen Anfechtung neoliberaler Hegemonie zu heben. Regierungen und korporatistische Medien gaben sich zwar alle Mühe, die erwähnten Massenproteste herunterzuspielen - vorzugsweise durch abschätzige Etikettierung ("Anti-Globalisierungsbewegung" - was könnte absurder klingen?) und hemmungslose Denunziation des Protestes als gewalttätigen Aufruhr. Doch die virulente Evidenz der Bilder zeigte etwas Anderes - der reklamierte neoliberale Konsens geriet unter Druck, mit archaischer Gewalt ging Berlusconis Polizei gegen die Demonstranten von Genua vor. Der 11. September 2001 brachte dann einen vorrübergehenden Rückschlag. Besonders in Amerika, die Nation stand unter Schock, und ein verzweifelter Patriotismus verhinderte jeden Protest. Inzwischen allerdings hat sich diese erste, instinktive Reaktion größtenteils erschöpft. Im August protestierten einige tausend Menschen gegen eine Spendenkampagne Bushs für die Republikaner in Portland ("Drop Bush, not bombs!"), nur ein Beispiel dafür, dass abweichende Meinungen in den USA wieder öffentlich artikuliert werden können, auch wenn die Bewegung für globale Gerechtigkeit noch nicht zu ihrer alten Stärke zurückgefunden hat und sich mit der Auffassung konfrontiert sieht, die Zeit der großen Massenproteste sei vorbei.Ich komme zu einem anderen Schluss. Über ein Jahr nach dem 11. September 2001 ist es zunächst einmal unverzichtbar, dass sich diese Bewegung deutlich von radikal-religiösen Fundamentalisten und deren Ablehnung der Moderne abgrenzt. Besonders die Kritik an Ariel Sharons Krieg gegen die Palästinenser sollte sich ausdrücklich auf die Menschenrechte und die Prinzipien des internationalen Rechts stützen (versuchen doch sowohl Osama bin Laden als auch Saddam Hussein, diesen Konflikt für sich zu instrumentalisieren). Die Ablehnung des Terrorismus - einer Anwendung von Gewalt aus politischen Gründen - muss klar und unmissverständlich sein. Das ist allein schon deshalb unverzichtbar, weil allenthalben suggeriert wird, dass es sich beim Konflikt zwischen denen, die eine neoliberale Ordnung befürworten, und denen, die sie ablehnen, einfach um einen Zusammenprall von Freiheitsliebe auf der einen Seite und Freiheitshass auf der anderen handelt. Einzig wirkungsvolles Argument gegen diese Demagogie ist die Präsenz Hunderttausender auf den Straßen.Niemand sollte warten, bis europäische Regierungen Amerika an die Verpflichtung erinnern, das Völkerrecht und die UN-Beschlüsse einzuhalten. Dadurch lässt sich ein Krieg im Irak nicht verhindern. Der Umstand, dass Bush die Unterschrift der USA unter den Vertrag über den Internationalen Strafgerichtshof wieder zurückgezogen hat, zeigt doch wohl, wie seine Regierung internationale Normen nationalen Interessen unterordnet. Darauf hat die EU am 30. September mit einer jämmerlichen Kapitulation reagiert, indem sie den Amerikanern Immunität bei einer strafrechtlichen Verfolgung durch den Weltgerichtshof zugestand.Augenblicklich vertrauen die USA auf ihre Fähigkeit, wenn schon keine geschlossene Kriegsfront gegen Bagdad, so doch wenigstens die Illusion eines politischen Konsenses zu erzeugen - mit den bekannten Mitteln der Bestechung und Einschüchterung. Die USA werden versuchen, den UN-Sicherheitsrat für eine Formalisierung dieser Illusion zu missbrauchen. Und weil sie wissen, Frankreich und Russland sind zuallererst an ihrem Stück vom ökonomischen Kuchen eines neuen Iraks interessiert, könnte ihnen das gelingen.Die Zeit läuft langsam ab. Ein Krieg im Nahen Osten könnte einen Wirbelsturm auslösen, dessen entsetzliche Folgen noch Jahrzehnte später zu spüren wären. Egal, ob die Europäer an diesem Waffengang teilnehmen oder nicht - sie werden auf jeden Fall dafür zu bezahlen haben.Der Autor ist promovierter Philosoph und Komparatist, freier Wissenschaftler und Künstler und lebt in Sarasota/ Florida. 2001 erschien das von ihm herausgegebene Buch Joseph Beuy: Mapping the Legacy.