Über den Reisfeldern liegt zarter hellgrauer Dunst. Ausflug ins Ländliche an einem nasskalten Sonntagmorgen; hinter uns erwacht Hanoi, hupend, bimmelnd, klingelnd - vor uns 60 Kilometer Landstraße Richtung Vorgebirge. 60 Kilometer lang bleibt unser Auto der einzige private Wagen, ein singuläres Zeugnis von Luxus. Holzkarren, Wasserbüffel, Fahrräder, Fahrräder, Fahrräder, und dann nur noch Stille.
Ein Bauerndorf im Norden Vietnams. Barfüssig flitzen Kinder voraus: Fremde! Fremde! Eine Langnase! Wer hat sie zuerst gesehen?
Vietnamesisch ist für den Ahnungslosen eine vertrackte Sache; alle Namen klingen verwirrend ähnlich, Provinzen, Dörfer, Personen purzeln einem leicht durcheinander. In diesem Fall heißt, wenn die Notizen nicht trügen, das Dorf Tau Linh, und die Gastgeber, die uns am Gartenzaun empfangen, sind Chu Van Minh und Bui Thi Thinh. Herr Minh. Frau Thinh.
Sie ist 55, er 65, und an beiden fällt zunächst auf, wie wenig sie den Erwartungen entsprechen, die ihre Lebensdaten zuvor geweckt hatten. Herr Minh: ein Oberst im Ruhestand, 40 Jahre beim Militär, Lehrer an einer Offiziersschule - und doch nichts von gravitätischer Strenge; leichtfüßig, agil, ganz liebenswürdige Zivilität. Frau Thinh: früher Bürgermeisterin des Dorfes, eine ausgezeichnete Kämpferin im Krieg gegen die Amerikaner - scheu und bescheiden verschwindet sie nach der Begrüßung gleich Richtung Küche.
Im Wohnzimmer des flachen Steinhauses hängt ein verblichenes Foto von Ho Chi Minh, es wirkt privat, wie das Bild eines Verwandten: Onkel Ho bei der Zeitungslektüre, 1947, eine Jacke leger über der Schulter. Herr Minh gießt bitteren gelben Tee in winzige Tassen, er stammt aus demselben Dorf wie Onkel Ho, war mit 19 schon bei der legendären Schlacht von Dien Bien Phu (1954) gegen die Franzosen dabei - aber das ist ihm nicht der Rede wert, bitte trinken Sie jetzt Ihren Tee!
Ein Gespräch in Vietnam beginnt mit dem Austausch von Familiendaten. Chu Van Minh hat fünf Töchter, in der Mehrzahl schon erwachsen, zwei studieren in Hanoi, doch in der Stimme ist der Vaterstolz verschattet. "Es ist traurig für eine vietnamesische Familie, keinen Sohn zu haben." Aus der Küche dringt Gemüsehacken herüber. Die Söhne seien traditionell für die Versorgung der Alten zuständig, sagt Herr Minh, und eine zweite Frau nehmen, das ging nicht, denn als Mitglied der Kommunistischen Partei habe er sich an die Verfassung zu halten, die Zweitfrauen verbietet.
An der anderen Wand des Wohnzimmers ein großes Landschafts-Poster von Taiwan, darunter steht eine Stereoanlage, Sony. Für vietnamesische Verhältnisse lebt die Familie im Wohlstand. Mit seiner Militärpension und ihrer Rente kommen sie auf umgerechnet 100 Mark im Monat; der Durchschnittsverdienst eines Bauern in diesem sehr armen Distrikt liegt bei 14 Mark. Ein Fabrikarbeiter in der Stadt schafft mit Überstunden 120 Mark im Monat, für eine Übernachtung im Hilton Hanoi müsste ein Reisbauer anderthalb Jahre arbeiten.
Das Wohnzimmer ist offen zum Hof, draußen läuft ein schweigsamer Enkel herum; wenn er spräche, spräche er russisch. Die älteste Tochter von Herrn Minh und Frau Thinh lebt in Minsk; zu sowjetischen Zeiten war sie Vertragsarbeiterin, nun schlägt sie sich mit ihrem Mann irgendwie durch. Den sechsjährigen Sohn haben sie zu den Großeltern geschickt, damit er endlich vietnamesisch lerne. Unter dem Bild von Onkel Ho hängt das Foto einer belorussischen Kindergarten-Schar, ein paar vietnamesische Gesichtchen darunter.
Wahrscheinlich war es die Kombination der Fotos, die mich viel zu früh fragen lässt: Kann der vietnamesische Kommunismus überleben? Herr Minh lacht ein langes asiatisches Lachen, in dem die Rüge für meine hastige Frage mitschwingt: "Darf ich Sie jetzt einladen, unseren Garten zu besichtigen?" Leiser sagt er: "Ich will Ihrer Frage nicht ausweichen. Aber Sie müssen wissen, dass ein Besuch wie der Ihrige vor einigen Jahren noch ganz unmöglich war."
Gemüse, Mandarinen, ein Fischteich, eine Truthahnfamilie. Eine offene Strohhütte, drinnen kleine Bänke, eine Schiefertafel. Herr Minh gibt seiner jüngsten Tochter und deren Freunden Englischunterricht. An der Tafel steht ein Übungssatz, der in der ländlichen Idylle wie eine kühle Nachricht vom modernen Überlebenskampf wirkt: "I wish I had a better job last month." Herr Minh hat selten Gelegenheit, mit Ausländern englisch zu reden; wer kommt schon in dieses Dorf? So versagt im Mündlichen, was er in der Strohhütte unterrichtet, und er greift verlegen auf den Dolmetscher zurück.
Während wir durchs Gärtchen spazieren, hat die jüngste Tochter im Wohnzimmer laute Disko-Musik aufgelegt. Vater Minh behauptet tapfer, doch, doch, die Musik gefalle ihm - und nutzt dann die Gelegenheit zur Klage: "Die Jugend von heute studiert nicht hart genug; sie stehen nur auf der Straße herum und wollen ein besseres Leben. Vielleicht gelingt es den Amerikanern diesmal, die Jugend zu erobern." Als wir uns zum Mittagessen mit vielen Schüsselchen auf den Boden des Wohnzimmers setzen, ist die Musik von unsichtbarer Hand abgestellt.
Selbstgebrannter Reisschnaps aus einer französischen Cognacflasche, dazu Vietnam-Wodka, alles in kleinen Tässchen. Der Dolmetscher ist ein japanischer Journalist; Herr Minh singt für ihn leise ein paar Zeilen eines Lieds aus der japanischen Besatzungszeit, er singt es auf japanisch, und der Dolmetscher raunt mir zu: Das ist jetzt so, als sänge in Deutschland jemand eine Hymne auf das Hakenkreuz.
Die bescheidene Frau Thinh leistet uns nur zum Essen Gesellschaft. Auf meine Frage, wie sich das Leben ihrer studierenden Töchter von ihrem eigenen Frauenleben unterscheide, gibt sie eine selbstbewusste Antwort: "Deren Wissen ist viel größer als meines, aber meine Kenntnis der Gesellschaft ist viel breiter. Sie kennen ja nur Hanoi, die Universität." Im Vietnam-Krieg, der in Vietnam der Amerikanische Krieg heißt, hat sie mit einer Maschinenpistole das Dorf verteidigt, den alltäglichen Notstand organisiert, die knappen Rationen Reis verteilt. Auf dem kleinen Hausaltar im Wohnzimmer stehen nur die Bilder der Ahnen ihres Mannes. "So ist es Tradition", sagt Bui Thi Thinh.
Achtlos waren wir bei der Ankunft an einem Lädchen an der Wegecke vorbeigelaufen; ungeübte Augen sehen in einem vietnamesischen Dorf zunächst nur stille Ärmlichkeit, übersehen Zeichen wirtschaftlicher Neuerung. Als vor 14 Jahren Privatbetriebe erlaubt wurden, hat Frau Thinh gleich diesen Supermarkt im Miniaturformat eröffnet. Als sie sich später hinter die hohe Ladentheke stellt, sehen wir von der zierlichen Frau nur den Kopf und ihr stolzes Lächeln unter dem ergrauenden Scheitel.
"Doi Moi (Vietnams Perestroika - C.W.) hat unseren Geist befreit", sagt Herr Minh, "wir können jetzt unser Leben in die eigene Hand nehmen. Jetzt ist es möglich, legitim reich zu werden."
Seltsam: Erst nach vielen Stunden Gespräch kommen wir auf das Thema, das uns eigentlich hergeführt hatte - Vietnam im 25. Jahr nach dem Ende des Amerikanischen Krieges. Ein Krieg, der zwei Millionen Vietnamesen das Leben kostete und im Westen eine ganze Generation politisierte. "Dieser Krieg", sagt der alte Soldat gelassen, "ist nur ein Teil unserer Geschichte, wie der Krieg gegen die Franzosen oder gegen die Mongolen." Kein Hass auf die Amerikaner, die soviel Zerstörung und Leid über Vietnam brachten? "Bitte verstehen Sie den vietnamesischen Nationalcharakter", antwortet Herr Minh. "Wenn wir gegen ein Land gekämpft haben, dann verschwenden wir danach nicht viel Zeit mit Hass. Wir sind schnell wieder Freund mit ehemaligen Feinden."
Viele Vietnamesen geben auf die Frage nach der Bedeutung des Kriegs eine ähnliche Antwort - und die Amerikaner, die heute in
Vietnam Geschäfte machen, sind überrascht über die Freundlichkeit, die ihnen entgegengebracht wird. Vietnam schaut kaum zurück, es zwingt sich, nicht zurückzuschauen. Vergessen ist dafür nicht das richtige Wort - auch Herr Minh benutzt es nicht. Und er macht einen feinen Unterschied: Kein Hass auf Amerika, wohl aber eine Erwartung, die sich mit dem Stichwort Agent Orange verbindet.
Herr Minh hat im Süden Vietnams gekämpft, jedoch nicht in den Zonen, wo das Entlaubungsmittel versprüht wurde; seine fünf Kinder sind gesund. Sein jüngerer Bruder kämpfte, wo der giftige Regen niederging; er hat ein geistig behindertes Kind. Wissenschaftler sprechen in solchen Fällen von Evidenz; einen Beweis, dass die hohe Rate von Behinderungen in Vietnam auf Agent Orange zurückgeht, gibt es nicht. Herr Minh hat keinen Zweifel, was das Unglück seines Neffen verursacht hat. "Wir bitten um nichts", sagt er, "aber es wäre Pflicht der Amerikaner, dem vietnamesischen Volk zu helfen."
Was ist die Lehre aus diesem Krieg? Was hat der alte Soldat seinen Töchter mitgegeben, außer: Nicht zu hassen? "Ach", Herr Minh ist bekümmert, "es ist unser Fehler, den jungen Leuten nicht genug mitgegeben zu haben. Heute merken wir, dass sie die Geschichte Vietnams nicht verstehen." Neulich gab es ein Quiz im Fernsehen, und die jungen Teilnehmer konnten die Frage nicht beantworten, wer der berühmte Verteidiger Vietnams gegen die Mongolen war. Tran Hung Dao, 1282. Sie hielten ihn für einen Filmschauspieler! Herr Minh ist beschämt.
Bevor mit dem Austausch von Höflichkeiten der Abschied eingeleitet wird, sagt Herr Minh plötzlich: "Und nun zur Ihrer Frage." Die Zukunft des Kommunismus. Die Antwort ist lang, verschlungen, voller Andeutungen, sehr asiatisch. Der Dolmetscher ringt die Hände. Zu verstehen ist: Herrn Minh traut der jetzigen Regierung wenig zu. Mit einem Blick auf das Foto an der Wand sagt er: "Einen Führer wie Ho Chi Minh bringt ein Land nur alle paar 100 Jahre hervor."
Rückfahrt nach Hanoi, gegen den Strom. Die Fahrräder, Fahrräder, Fahrräder kehren zurück. Über die Reisfelder senkt sich Dämmerung.
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