Die Zustimmung steigt

Schottland Eine Unabhängigkeit war noch nie so nah. Die Menschen wollen nicht zu einem Land gehören, in dem jemand wie Boris Johnson Premierminister ist
Ausgabe 45/2019
Die Erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon
Die Erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon

Foto: Jeff J Mitchell/Getty Images

Wer dieser Tage auf den Straßen im Norden Großbritanniens die Worte „zweites Referendum“ in den Mund nimmt, muss wissen, was die Menschen hier in Schottland damit meist verbinden: nicht etwa eine zweite Abstimmung über die britische Zugehörigkeit zur Europäischen Union. Sondern ein erneutes Votum darüber, ob Schottland ein unabhängiges Land sein soll. Beim letzten Mal, 2014, stimmte eine Mehrheit von 55 Prozent dagegen.

Nun, fünf Jahre später, sei die Unabhängigkeit so nah wie nie, sagt Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, und die Meinungsumfragen scheinen ihr recht zu geben. Mehr und mehr Schotten glauben, ihr Land wäre innerhalb der EU und außerhalb des Vereinigten Königreichs sehr viel besser aufgehoben als andersherum. Beim Brexit-Referendum stimmten gut 62 Prozent für den Verbleib in der EU.

Politisch haben sich London und Edinburgh zuletzt immer weiter voneinander entfernt. In Schottland herrscht Wut über die anhaltende Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft von EU-Staatsangehörigen auf britischem Boden nach einem EU-Ausstieg. Sozialpolitisch geht es in eine ganz andere Richtung als südlich des Hadrianwalls: keine Überlegungen, das Gesundheitssystem stärker dem freien Markt zu überantworten, keine Studiengebühren, stattdessen kostenlose Betreuung für Kinder, neuerdings zum Beispiel auch ein Starterpaket für Familien mit Neugeborenen, inklusive Kleidung, Handtuch, Fieberthermometer, Wickelunterlage und Büchern.

Das ist kein Utopia. Aber die Menschen wissen zunehmend, dass sie nicht Teil einer Welt sein wollen, in der so jemand moralisch Bankrottes wie Boris Johnson Premierminister und ein steinreicher Ultrakonservativer wie Jacob Rees-Mogg in eine politische Führungsrolle gelangen kann. Wo zugleich ein Tommy Robinson mit seiner rechtsradikalen English Defence League immer stärker wird.

Eine zunehmende Zahl von Schotten mag die Idee, in einem kleinen liberalen europäischen Nationalstaat zu leben. Im Angesicht der Umfragen und von Demonstrationen für die Unabhängigkeit wie der von 200.000 Menschen in Edinburgh im Oktober hat Nicola Sturgeon zwei Ansagen gemacht, die ihr wenig Spielraum gegenüber leidenschaftlicheren Befürwortern der Unabhängigkeit unter ihren Unterstützern lassen: Bis zum Ende des Jahres soll ein zweites Referendum auf den entsprechenden parlamentarischen Weg gebracht worden sein, 2020 soll dieses stattfinden. Wer auch immer nach den britischen Wahlen im Dezember das Vereinigte Königreich führen wird – er oder sie sollte sich auf einen Kollisionskurs mit der schottischen Regierungschefin einstellen. Würde Boris Johnson oder ein anderer Premier einfach Nein zu einem Unabhängigkeitsreferendum sagen, wollen die Schotten die Angelegenheit vor Gericht bringen – ein Erfolg ist aber nicht garantiert.

Wer vermutet, das schottische Unabhängigkeitsbegehren würde sich durch ein zweites Pro-Remain-Referendum in Großbritannien in Wohlgefallen auflösen, könnte irren. Die Gräben sind zu groß geworden. Soll Schottland Teil Großbritanniens bleiben, dann wird das kaum gehen, ohne dass über diese Frage nochmals eine Abstimmung stattgefunden hat.

Ruth Wishart ist schottische Journalistin und schreibt unter anderem für den Guardian

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