In der Debatte um die Bundespräsidentenwahl dominieren zwei Fragen: Wer soll es werden? Und wie soll der Bundespräsident gewählt werden? Die Antwort auf die erste Frage ist für den politischen Alltagsbetrieb ohne Bedeutung. Die Antwort auf die zweite Frage – die meisten plädieren für eine Direktwahl des Bundespräsidenten — zeigt nicht nur das verbreitete Unbehagen über die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie, sondern auch die tief sitzende Verachtung gegenüber der Parteiendemokratie in Deutschland. Fast möchte man sagen: Weimar ante portas!
Doch beginnen wir mit der Frage: Wie soll der nächste Bundespräsident heißen? Christian Wulff oder Joachim Gauck? Das scheint für viele Kommentatoren eine Schicksalsfrage, an der sich die Zukunft von Schwarz-Gelb, wenn nicht der Demokratie insgesamt entscheidet. Mit der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Amtes und der politischen Realität hat die Bedeutung, die man dieser Frage beimisst, allerdings nichts zu tun.
Das Amt des Bundespräsidenten ist verfassungsrechtlich und politisch marginalisiert, für den politischen Alltagsbetrieb ist es sogar überflüssig. Minister und Beamte könnten von anderen Amtsträgern ernannt und Gesetze könnten vom Präsidenten des Parlaments unterschrieben werden (wie in den Ländern). An dieser verfassungsrechtlichen Marginalisierung ändert die Debatte über das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten bei Gesetzen nichts. Ein solches Prüfungsrecht ist ihm im Grundgesetz nicht zugewiesen und in der Staatspraxis nicht zugewachsen. Die acht Gesetze, die Bundespräsidenten seit 1949 nicht unterschrieben haben, begründen bestenfalls eine „Reservefunktion“. Ein Bundespräsident sollte verfassungsrechtlich eben nicht gezwungen sein, ein Ermächtigungsgesetz unterschreiben zu müssen. Aber wieso einem Bundespräsidenten, der mangels eigener fachlicher Kompetenz ein solches Recht an anonyme Verfassungsjuristen abtreten müsste, ein allgemeines materielles Prüfungsrecht von Gesetzen eingeräumt werden soll, bleibt unklar.
Flüchtige Macht
Noch flüchtiger wird die Macht von Bundespräsidenten, wenn man die anderen Funktionen betrachtet, die man dem Amt andichtet. So verkörpere dessen Inhaber die „Einheit der Nation“ und soll der Gesellschaft eine über den Tag hinausreichende Orientierung geben. Das bedeutet aber nur, die Schwächen des Amtes in Stärken umzuinterpretieren. Denn nur, weil der Bundespräsident machtlos ist, kann er überparteilich sein. Nur wenn er mit dem kurzlebigen politischen Alltagsgeschäft nichts zu tun hat, kann er langfristige Überlegungen anstellen. Und nur weil ein Bundespräsident nichts zu entscheiden hat, ist er in der Bevölkerung populär. Die guten Umfragewerte aller Bundespräsidenten sind dem Amt, nicht den Amtsinhabern geschuldet.
Wichtiger noch: Die Vorstellung, man könne die politische Gemeinschaft der Nation durch eine Person verkörpern, hat mit der postnationalen Gegenwart nichts zu tun. Eine solche Vorstellung knüpft an überkommene Souveränitätsideen an, mit denen sich bestenfalls die Existenz von Monarchien begründen lässt. Seit Thomas Hobbes und Jean Bodin kann man sich nationale Souveränität eben nur in einem Körper vorstellen, also in einer Person. Das ist pure Metaphysik, was sich etwa darin zeigt, dass in Australien das formelle Staatsoberhaupt, Queen Elizabeth, nicht die Einheit der Nation verkörpert. Ist das Land deswegen in Auflösung? Mitnichten!
Wir brauchen einen Bundespräsidenten also weder für den politischen Alltagsbetrieb noch als Symbolfigur für etwas, das es überhaupt nicht gibt.
Wir brauchen das Amt
Das „Staatsoberhaupt“ ist auch politisch machtlos. Und muss es sein. Denn wenn ein Bundespräsident Macht hätte, müsste er Interessen befriedigen und Partei ergreifen für und gegen gesellschaftliche Gruppen. Die Überparteilichkeit des Amtes setzt politische Machtlosigkeit folglich zwingend voraus. Es ist daher folgerichtig, dass kein einziger Präsident die politische Geschichte der Bundesrepublik geprägt hat. Dieses Verdikt gilt auch für Richard von Weizsäcker, der – genau genommen – nur eine einzige bedeutende Rede gehalten hat. Noch mehr gilt es für die anderen Präsidenten. Keiner hat bleibende Spuren hinterlassen. Sie gingen als Wanderer (Karl Carstens) oder Sänger (Walter Scheel) in die Geschichtsbücher ein. Und ihre Reden werden bestenfalls zitiert, um deren Wirkungslosigkeit zu illustrieren.
Trotzdem: Wir brauchen das Amt. Und zwar genau dann, wenn wir es am wenigsten wollen, nämlich in Zeiten von Verfassungskrisen. Gegenwärtig haben wir sicher eine politische Krise, aber – noch – keine Verfassungskrise. In Verfassungskrisen, in denen die Staatsorgane die ihnen im Grundgesetz zugewiesenen Aufgaben nicht erfüllen können, gewinnt der Bundespräsident materielle Entscheidungskompetenz. Dann kommen seine „Reservefunktionen“ zum Tragen. Dann kann er Wege aus der Krise weisen und zum Beispiel den Bundestag auflösen oder, falls das Parlament keine ausreichende Mehrheit zustande bringt, einen Minderheitenkanzler ernennen. Oder offensichtlich verfassungswidrigen Gesetzen – aber auch nur solchen! – seine Unterschrift versagen.
Wenn die demokratischen Verfahren nicht so funktionieren, wie dies in der Verfassung vorgesehen ist, schlägt also die Stunde des Präsidenten. Und beim gegenwärtigen Stand der Dinge spricht einiges dafür, dass der in wenigen Tagen zu wählende Nachfolger von Horst Köhler diese Kompetenzen bald wird einsetzen müssen. Regierungen sind in einem fluiden Parteiensystem immer schwieriger zu bilden (siehe Nordrhein-Westfalen oder Hessen) und dauerhaft im Amt zu halten (siehe Schleswig-Holstein und – vielleicht – die Bundesregierung). Doch auch dann gilt: Anders als der Weimarer Reichspräsident kann der Bundespräsident keine Regierung schützen, die ohne Mehrheit im Parlament ist. Er muss vielmehr die Verfassung schützen. Er ist Diener der Demokratie in guten wie in schlechten Zeiten. Das ist die einzige Aufgabe, die er zu erfüllen hat. Und die wird Joachim Gauck ebenso gut erfüllen wie Christian Wulff.
Wie ist es aber mit der zweiten Frage? Sollen wir den Bundespräsidenten direkt vom Volk wählen lassen? Von links und rechts wird ein solcher Vorschlag unterstützt, er wird in Kommentaren gutgeheißen und durch Umfragen befeuert. „Das Volk“, so heißt es, wolle seinen Präsidenten gerne selbst wählen.
Zuletzt hat dafür auch der Schriftsteller und Philosoph Richard David Precht in der Zeit plädiert. Er kritisiert, wie die Bundespräsidenten ins Amt „gemauschelt“ wurden, und hofft, dass niemand, der etwas auf sich hält, sich ins „Amt klüngeln“ lassen wird. Was wir in diesen Schicksalstagen brauchen, so Precht, ist eine „überparteiliche Kontrolle“ und eine „interessenunabhängige, moralische Führungsfigur“. Er fordert deswegen eine Direktwahl des Bundespräsidenten. Denn nur dann bestehe die Möglichkeit, dass der „Integerste, der Begabteste, der Klügste, der Eigenständigste, Umsichtigste, der Brillanteste“ ins Amt kommen könne. Und nichts weniger sei gefordert. Die aktuelle Demokratie ist in den Augen von Precht eben keine „richtige“ Demokratie, sondern bloß „Machtdemonstration einer kleinen Führungselite, die zeigt, dass sie sich dem deutschen Volk (sic!) nicht verpflichtet fühlt“.
Unbehagen der Eliten
Nun sind mir Eliten, die sich dem „deutschen Volk“ nicht so ohne Weiteres verpflichtet fühlen, gar nicht so unsympathisch (solange sie abgewählt werden können). Während mir Schriftsteller und Philosophen, die das Schicksal der Nation in die Hände „interessenunabhängiger, moralischer Führungsfiguren“ legen wollen, eher nicht geheuer sind. Und man könnte frei nach Bert Brecht fragen: Brauchen denn die „interessenunabhängigen moralischen Führungsfiguren“ nicht mal einen Koch, um die „Gemüter in diesem Land mit frischen neuen Ideen“ zu versorgen, wie Precht von einem Bundespräsidenten verlangt?
Im Precht’schen Pamphlet spiegelt sich das verbreitete Unbehagen eines großen Teils der Eliten gegenüber der parlamentarischen Demokratie. Gespeist wird es von einer Sehnsucht nach kräftigen politischen „Führungsfiguren“, nach „Durchregieren“ und nach einfachen Lösungen. Und es ist gepaart mit einer tief sitzenden Verachtung gegenüber den Parteien und dem mühseligen demokratischen Entscheidungsprozess.
Stets wird dann „das Volk“ in Stellung gebracht gegen die politische Elite und gegen die Parteien. Dass es „das Volk“ als handelnde Einheit nicht gibt, sondern dass bestenfalls in Umfragen politische Meinungen erhoben werden, ist in dieser Perspektive unerheblich, demokratietheoretisch aber nicht ganz ohne Belang. Auch dass die Vorstellungen von Precht und anderen, die für eine Direktwahl plädieren, nicht frei sind von Inkonsistenzen und Widersprüchen, wird geflissentlich übersehen. Wieso etwa soll ein direkt gewählter Bundespräsident überparteilicher sein als ein indirekt gewählter? Im Gegenteil ist doch zu erwarten, dass eine Direktwahl das Amt politisieren wird. Und ein Blick in die Länder mit direkt gewählten Präsidenten wie die USA und Frankreich zeigt, dass keineswegs immer der „Integerste, der Begabteste, der Klügste, der Eigenständigste, Umsichtigste, der Brillanteste“ gewählt wird. Und dass sogar diejenigen, die diesem Anforderungsprofil einmal entsprochen haben – wie etwa Barack Obama – im Amt rasch ihren Nimbus verlieren.
Doch geht es Precht nicht darum, die Folgen seiner Vorstellungen zu bedenken oder deren Realitätsgehalt zu prüfen. Vielmehr will er die Wirklichkeit parlamentarischer Demokratie denunzieren, die er an der Phantasiewelt einer „idealen Demokratie“ misst. Diesen methodischen Trick wusste schon Carl Schmitt aufs Trefflichste anzuwenden, um gegen Parteien, Parlament und repräsentative Demokratie der Weimarer Republik zu polemisieren. Precht und viele andere stehen in dieser Tradition.
Werner Reutter, Jahrgang 1958, ist Politikwissenschaftler und zurzeit Vertretungsprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin
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