(Spitzelbericht) Der Inoffizielle Mitarbeiter der Hauptverwaltung III./III./1 des Innenministeriums "Mészáros" meldete im April 1968: Was die allgemeine Stimmung betrifft, machte ich in der letzten Zeit folgende Erfahrungen: In der Provinz, unter den Werktätigen an unterschiedlichsten Arbeitsplätzen ist die Stimmung durchschnittlich. Darunter verstehe ich, dass der größte Teil der Menschen unpolitisch ist, obwohl sie für den Zweck des Staates aktivierbar sind. Es gibt nur ganz wenige "Gegendrucker" mit bösem Willen, das sind alte Leute, die nichts tun, außer den Mund bitter zu verziehen. Das Rowdytum ist in der Provinz so gut wie unbekannt. Interessanterweise ist hier alles isoliert. Die "mutigen" ungarischen Autoren, die versuchen, in ihrer Sys
Dies ist das Haus, in dem die Zeit stehen bleibt
Ungarn 1968 Während in Prag der politische Frühling einzieht, wissen Spitzel im Nachbarland nichts von Unruhen zu berichten. Für den Autor riecht es in Budapest "nach Zelle". Eine Montage
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Systemkritik stärkere Akzente zu setzen, kennt hier niemand. (...) Die Stimmung in Budapest ist, was die Betriebe anbelangt, zweideutig. Einerseits gibt es den Standpunkt, dass sich mit der Wirtschaftsreform nichts ändern würde. Die Vertreter dieser Stimmung sind skeptisch, passen sich aber dem System geschickt an, leben von privaten Nebenaufträgen auf einem befriedigenden Lebensniveau. Der Standpunkt der "Pendelarbeiter", derjenigen, die in der Hauptstadt arbeiten und erst am Wochenende nach Hause fahren, hängt davon ab, wie weit sie vom Zentrum des Landes wohnen. Diejenigen aus Nordost-Ungarn sind ganz provinziell und denken nicht an Politik, sondern nur noch an Fußball. Die in der Nähe von Budapest wohnenden sind aktiver: Streitsüchtige Typen, die meisten sind Säufer, provozieren im Zug die Sowjetsoldaten und erzählen Judenwitze. (...) Grund ihrer gereizten Stimmung ist m. E. das laut ihrer Meinung niedrige Niveau ihrer materiellen Situation, bzw. die Tatsache, dass sie nicht in Budapest wohnen können. (...) An der Peripherie der Hauptstadt gibt es wieder viele Rowdygruppen. Ein Teil davon äfft die "Hippies" nach, kleidet sich auch so und versucht, den Anarchismus der Hippies in ihr Leben umsetzen. M. E. sind sie völlig ungefährlich, abgesehen von der potenziellen Gefährlichkeit. Es war Frühling, der erste, den ich nach fünf Jahren Moskauer Studien in Budapest verbracht hatte. Um drei Uhr nachmittags ging ich von der Fischerbastei hinunter zur Kettenbrücke, weil es mir gut tat, plötzlich die blaue Donau zu sehen. Meine Sinne waren angeregt vom Wippen der Miniröcke, und im Radio hörte ich den Hit von Zsuzsa Koncz: Dies ist das Haus, wo sich nichts verändert, dies ist das Haus, wo die Zeit stehen bleibt. Vor dem staatlichen Reisebüro in der Innenstadt standen lange Schlangen. Die Staatsbürger beantragten bereits jetzt ihre Visa für die Sommerreise nach Venedig oder Paris. Auf den Treppenstufen des Nationalmuseums saßen Studenten mit Lehrbüchern in der Hand, die Zeit der Prüfungen war nah. Knappen Zeitungsmeldungen war zu entnehmen, dass zur gleichen Zeit andere Studenten aber einige Länder weiter westlich, Barrikaden bauten. Ich ging in meiner Arbeitskleidung, einem schlecht sitzenden Sakko, die Budapester Straßen entlang. Ich, ein Student von gestern, schwitzte in der beginnenden Hitze, war unrasiert und müde. Jetzt wäre es gut, jung zu sein, dachte ich mit meinen 24 Jahren. Ich musste schnellstens 5.000 Forint auftreiben, da der Vorschuss für Dr. Román, meinen Rechtsanwalt, fällig war. Um mein bescheidenes Gehalt aufzubessern, übersetzte ich einen nie enden wollenden DDR-Roman, Insel ohne Leuchtfeuer von Ruth Kraft, der aber erst im Juli Geld einbringen sollte. Die Aussicht, zu der Zeit möglicherweise im Gefängnis zu sitzen, beunruhigte mich weniger als die Tatsache, dass ich in diesem Fall weder die Übersetzungsarbeit beenden, noch meine Schulden zurückzahlen könnte. Es roch ziemlich nach Zelle, denn die Anklage gegen "György Pór und Konsorten" wegen "Verschwörung gegen den Staat" landete bereits in meinem Briefkasten, und Gyuri Pór, bester Freund meiner Schülerjahre, saß seit Ende Januar in Untersuchungshaft. (ZK-Beschluss) Koordinationssitzung der Administrativen Abteilung am 18. April 1968. Tagesordnung: Fall von György Pór und Konsorten. Der Fall muss in offener Verhandlung verhandelt werden, an der jedoch nur Eingeladene teilnehmen dürfen. Die Liste der Teilnehmer soll so zusammengestellt werden, dass diejenigen, die in der Sache eine Rolle spielten, die Verhandlung mit anhören, um daraus ihre Lehre ziehen zu können. Außerdem sollten diejenigen dabei sein, die im Kontext des Falles politische Arbeit leisten werden (Funktionäre des Kommunistischen Jugendverbandes, Universitätsdozenten, u. a.) Die Koordinationssitzung erachtet es als notwendig, dass in diesem Fall noch vor dem Abschluss des Studienjahres ein Urteil in erster Instanz gesprochen wird. Der Fall derjenigen Personen, die nicht vor Gericht gestellt wurden, soll zwecks ihrer Verantwortlichmachung an die entsprechenden Stellen weitergeleitet werden. Es ist wünschenswert, während des Verfahrens den konkreten staatsfeindlichen Charakter des Falles zu betonen, unter Hinweis auf Konspiration und andere Erscheinungen, die einen Beweis dafür erbringen, dass die Angeklagten nicht wegen ihrer Ansichten vor Gericht gestellt worden sind. Es ist wünschenswert, dass das Gericht den Fall weder überbewertet noch als unbedeutend betrachtet. Offensichtlich war auch die Stimmung der Parteimacht durchschnittlich in dem sonderbaren Schaltjahr 1968, als sie den Richtern einen goldenen Mittelweg empfahl. In dessen Zeichen erhielt Gyuri Pór zweieinhalb Jahre Haft, die anderen neun Angeklagten weniger und die meisten erhielten eine Bewährungsstrafe. Vielleicht war dieses relativ glimpfliche Strafmaß ein Akt der Dankbarkeit gegenüber uns, die wir in unserer Dummheit die Anklage selbst auf Tellern serviert hatten. Erstens stellten wir bei einem Treffen nach eingehendem Studium des Strafgesetzbuches fest, dass unsere Tätigkeit im Fall einer Entlarvung am wahrscheinlichsten unter den Paragraph Verschwörung fallen würde. Zweitens verkündete unsere Programmschrift mit brutaler Aufrichtigkeit: Wir machen kein Hehl daraus, dass unser Ziel der gewaltsame Sturz der sich mit dem Deckmantel des Revisionismus tarnenden bourgeois-bürokratischen Diktatur ist. (Soll ich mich für diesen im Sowjetbarock verfassten Satz schämen oder lieber stolz auf ihn sein? Ich weiß es nicht. Ein Freund sagte mir: Über ein gewisses Alter muss einer selbst auf den bösen Ruf aufpassen.)Durchschnittlich war die Reaktion des Systems, denn es fielen damals zweifellos sowohl mildere als auch härtere Urteile. In dem parallel laufenden Prozess der in Ungarn lebenden griechischen Exilkommunisten erhielt der Hauptangeklagte ein Jahr Freiheitsentzug ohne Bewährung, während unseren Generationsgefährten, Mitgliedern einer ausschließlich im Arbeitermilieu verwurzelten "Nationalen Kommunistischen Partei", selbst in der mildernden zweiten Instanz fünf Jahre ausgeteilt wurden. Diese Unglücksraben verdankten ihr drakonisches Urteil allein dem Umstand, dass zwei von ihnen Soldaten der Volksarmee waren und der Fall deshalb in die Zuständigkeit eines Militärtribunals gehörte. Die Burschen wollten - laut Statut ihrer Organisation - die osteuropäischen Völker von der sowjetischen Abhängigkeit befreien und in einer sozialistischen Konföderation vereinigen. Niemand von ihnen durfte sich auf freiem Fuß verteidigen, und auch Appelle zur Mäßigung ließ die Partei nicht an die Richter ausrichten. (Spitzelbericht) Der IM "Mészáros" meldete im Mai 1968: Unter den Universitätsstudenten, besonders an der Fakultät für Philosophie, löst der Fall Pór ein bedeutendes Echo aus, starkes Interesse ist vorhanden. An der philosophischen Fakultät gibt es zwei Strömungen: Menschen des Typus N., die einen gemäßigt revisionistischen Standpunkt vertreten und andererseits die Linie von X. und Y., die links stehen, "New Observer" und andere abenteuerliche Blätter lesen und an die Weltrevolution glauben. Der Fall Pór schlug an der Kunsthochschule Wellen, da mehrere Studenten von dort in die Sache verwickelt sind. Der Prozess wirkt wie eine Sensation, über deren Einzelheiten man einiges von den direkt Betroffenen erfahren kann, weil diese sich auf freiem Fuß befinden. Außerdem wird viel Klatsch verbreitet. Unter den Beteiligten sprach ich mit M. und György Dalos. Beide fassen ihre Lage optimistisch auf, obwohl sie sich schon Sorgen machen! Der ganze Fall ärgert sie höchstens, als handele es sich um irgendeine peinliche Dummheit. Scheinbar haben sie nichts bereut. Im April 1968 lernte ich in einer Budapester Wohnung den jugoslawischen Dichter Radovan Zogovic´ kennen. Dieser hervorragende Lyriker, bekannter Protagonist der Avantgarde, Freund von Milovan Djilas, im Krieg Partisanenkommandeur, überwarf sich während des sowjetisch-jugoslawischen Konflikts mit Tito. Er war ein beinharter Bolschewik von der montenegrinischen Sorte. Einsperren oder internieren wollten sie ihn als Poeten lieber nicht, aber man hielt ihn jahrelang unter Hausarrest und er durfte auch keine Bücher publizieren, ein Verbot, das wohl in diesem Jahr gelockert worden war. Nun, ausgerechnet dieser Umstand hat mich bei ihm am meisten beschäftigt. Ich musste ernsthaft überlegen, ob ich bereit wäre, für meine so eben abgeurteilten Ideen 50 Jahre Buchverbot in Kauf zu nehmen. Was soll ich überhaupt als 24-jähriger Autor, der einen schmalen Lyrikband veröffentlicht hat, über die Zeit denken, über die Aussicht, mein übriges Leben in einem ungeliebten System zu verbringen, das mir zudem noch das Beiwort "sozialistisch" wegnehmen will? Könnte es sein, dass ich zum Zeitpunkt, da mein zweites Buch auf dem Tisch liegt, vierzig Jahre alt bin? Viel Lust hatte ich dazu nicht. Dabei ist es eben so passiert.Im November desselben Jahres klingelte bei mir zu früher Stunde ein ehemaliger Schulfreund - Telefon hatten wir ja nicht. Er teilte mir atemlos mit, der weltberühmte Mathematiker Paul Erdös habe von mir gehört und möchte mich gerne kennen lernen. Leider sei er unterwegs zwischen New York und Sydney und könne mir nur am Vormittag Audienz gewähren. Ich hatte keine Ahnung davon, wer dieser Mensch ist und was er an einem deklassierten ungarischen Literaten so interessant finden könnte, war aber um elf Uhr im Mathematischen Institut. Er entschuldigte sich wegen der Eile und stellte mir gleich die Frage, was es eigentlich mit China und meinem Fall auf sich habe. Ich begann, ihn vorsichtig über den Bruch zwischen Moskau und Peking sowie über meine Vorbehalte gegenüber dem ungarischen Sozialismus zu unterrichten. Er hat mit Geduld zugehört, ich hatte aber das Gefühl, nicht besonders unterhaltsam zu sein. Dann war Erdös dran. Er sagte, er schätze mein Interesse für China, denn das Land habe eine große Zukunft, besonders in Bezug auf die Mathematik. Er habe einen Kollegen dort, der auf Weltniveau Zahlentheorie betreibe. Und dann begann er ebenso detailliert sein Spezialgebiet zu schildern wie ich ihn zuvor in die Einzelheiten der Geschichte der KP China hatte einweihen wollen. Trotzdem waren wir nicht quitt. Während seine Thesen, Formeln und Gleichungen durch meinen Schädel rasten, konstatierte ich erschrocken, dass jemand fließend eine halbe Stunde reden kann, ohne Worte wie "Imperialismus", "Sowjetunion" oder "Solidarität" gebrauchen zu müssen. Und obwohl ich die Größe dieses zwischen den Kontinenten fliegenden, schlecht gekleideten Genies nicht annähernd ermessen konnte, war ich plötzlich vom Zauber der menschlichen Ausschließlichkeit berührt. Auf einmal spürte ich die völlige Bedeutungslosigkeit meiner bisherigen und zukünftigen schriftstellerischen Leistung, meine ganze zwischen den Grenzbahnhöfen Záhony und Hegyeshalom eingekeilte Existenz.Nachbemerkung: IM "Mészáros" weilt nicht mehr unter den Lebenden. Er war ein Plaudermensch mit dem bitteren Humor von gescheiterten Intellektuellen, die es damals so viele gab. Über mich berichtete er zwei Jahre lang. Die Firma musste ihn geschätzt haben, denn sie bat ihn auch, Vorschläge zu den von ihm bespitzelten Personen zu machen. In meinem Fall fiel sein Rat folgendermaßen aus: "Solange er funktioniert, wird er Schaden anrichten. Man muss ihn unschädlich machen." Selbst heute, 40 Jahre später, lese ich diesen Text mit Herzklopfen.
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