Diese Grandezza

Fotografie Ruth Orkin wurde erst spät bekannt. Zu ihrem 100. Geburtstag erscheint ein neuer, grandioser Bildband
Ausgabe 35/2021

Nein, sagt Eugen, Nachbar, er sehe das anders. Als Spiel nämlich, als selbstbewusste Haltung der Frau, Grandezza. Sicher habe sein Alter damit zu tun, der Umstand, dass er in Österreich und Italien aufgewachsen ist. Eugen ist 1957 geboren, wir schauen weiter auf das Bild, Frühstück am Cafétisch, Zufall, Eugen kennt die Aufnahme gut, American Girl in Italy, eine der bekanntesten Fotografien von Ruth Orkin: Eugens Ex-Partnerin ersteigerte vor Jahrzehnten einen Abzug, hängte ihn in die gemeinsame Wohnung.

Wir unterhalten uns über Ruth Orkin, weil der Band A Photo Spirit vor uns auf dem Cafétisch liegt, eine Auswahl zum 100. Geburtstag einer nicht selten übersehenen Fotografin. Orkin wollte Kamerafrau beim Film werden, nur ließen die Gewerkschaften Frauen in den USA nach dem Krieg dafür noch nicht zu.

Also musste Orkin komplizierte Wege einschlagen, weder standen ihr Ausbildungsmöglichkeiten offen, noch Anstellungen, sie verinnerlichte Ratgeberbücher über Fotografie, experimentierte, verpflichtete sich 1942 bei den Women’s Army Auxiliary Corps, wurde auch hier enttäuscht – man schickte sie nicht in die Abteilung, in der sie Trainings in Kameratechnik und Filmemachen bekommen wollte. Sie blieb trotzdem dran: Eine erste Veröffentlichung der Siegesfeiern am Ende des Zweiten Weltkrieges erschien im Hausmagazin der Handelskette Macy’s.

Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg bedeuteten Aufstieg und Verbreitung von illustrierten Magazinen, Orkin beteiligte sich an Ausschreibungen und Preisen – von ihrer ersten belichteten Filmrolle reichte sie die Serie Jimmy Tells a Story 1947 beim Contest for Young Photographers ein. Die Serie wurde im Magazin Look gedruckt. Da war sie längst mit der Kamera aus Kalifornien nach New York geradelt, und auch wenn dort Edward Streichen, Direktor der MoMA-Fotografie-Abteilung, eine weitere Serie von ihr in der legendären Ausstellung The Family of Man aufnahm, musste sie weiter mit allerlei seltsamen Jobs Geld verdienen. Später notierte sie in ihrer unveröffentlichten Autobiografie, wie sehr es sie, selbst als ihre Aufnahmen regelmäßig in Zeitschriften gedruckt wurden, immer genervt habe, etwa 90 Prozent ihrer Zeit nicht mit Fotografie, sondern mit dem Klimbim drum herum zu verschwenden: Klinken putzen, Vorschläge einreichen, mit Redakteuren streiten. Von etlichen Aufträgen wurden nicht selten und ohne Erklärung wenige Aufnahmen gedruckt. Redaktionen als selbstherrlich verwaltete Kammern, bei denen Zugehörigkeit oder Freundschaft entscheidet, was ins Blatt kommt, nicht origineller Ansatz oder Qualität: Manche Dinge scheinen sich nur wenig verändert zu haben.

Zurück zu American Girl in Italy. Orkin hat die Aufnahme 1951 gemacht, und als Mann draufzublicken, ist heute nicht einfach: eine Schwarz-Weiß-Aufnahme, in der Bildmitte eine Frau im eleganten Kleid, die auf eine Florentiner Kreuzung zugeht. Um sie herum und noch in den Hintergrund gestreckt stehen Männer in legeren Sommeranzügen, schauen ihr aus Hauseingängen nach, heitere Gesichtszüge, knapp hinter ihr pfeift einer, vom Cafétisch an der Ecke beugt sich einer zur Seite für die bessere Sicht, auf einem Roller lacht einer besonders fett; Blicke älterer Männer, als wehten Jugenderinnerungen noch einmal vorbei.

Spiel oder Schrecken?

Die Frau hält sich gerade, den rechten Arm halb vor der Brust verschränkt, fester Griff um Schal, Tasche und Zeichenblock in der Linken, wie zum Schutz vor den Körper gehalten. Sind die halb geschlossenen Augenlider, das hochgereckte Kinn, der feste Schritt die erhabene Antwort auf die Catcalls, eine Geste, die ihre Unangreifbarkeit zeigt, das, was Nachbar Eugen unter Grandezza versteht? Spielt sie mit? Oder mischt sich Schrecken unter ihre madonnenhaften Gesichtszüge, will sie möglichst schnell weiter? Jedenfalls schreitet die Frau auf die Öffnung zu, die ihr das Spalier der Männer lässt, knapp an der Kamera vorbei muss es eine Flucht geben. Ich vermute eher einen Spießrutenlauf, Unbehagen, Bedrängnis, Eugen sieht eher eine harmlose Begegnung, ein wohliger Moment für alle Seiten, ein kleines Theaterstück.

Allerdings ist die Aufnahme arrangiert, der auffälligste unter den Männern, der auf dem Roller, ist ebenfalls Amerikaner, ein Freund der „bella donna“. Die übrigen Männer hatte Ruth Orkin auf den Straßen rekrutiert. Mit ihren beiden Landsleuten hatte sie eine ganze Reihe Fotos in Italien geschossen, Bilder der Frau mit Skulpturen, auf Kopfsteinpflaster, inmitten von Automobilen und Schwierigkeiten mit fremder Sprache, Währung, Gepflogenheiten. Fahrten im offenen Sportwagen. Fast immer ist das Girl im Zentrum der kleinen Erzählung.Auf einer wunderbaren Farbaufnahme ein paar Seiten später spielt das leuchtend entwickelte Orange ihres Schals mit der Farbe ihres Lippenstiftes.

Orkin hatte der Zufallsbekanntschaft vorgeschlagen, ein wenig Geld damit zu verdienen, den noch ungewöhnlichen Umstand allein reisender Frauen zu illustrieren. Gesichtszüge und Gesten ihres Models zeigen bisweilen, dass die Stummfilmzeit – in der Orkins Mutter zum Star aufstieg – noch nicht lang vorüber war. Als die Bilder ein Jahr später in der Cosmopolitan erschienen, hat American Girl in Italy eine entwarnende Bildunterschrift: „Öffentliche Bewunderung (...) muss Sie nicht nervös machen. Den Ladys schöne Augen zu machen, ist ein beliebter, harmloser und schmeichelhafter Zeitvertreib, dem Sie in vielen fremden Ländern begegnen. Die Herren treten in der Regel lauter und demonstrativer auf als Amerikaner, aber sie hegen keine bösen Absichten.“

Kleine Intimitäten

Aus der Serie sprechen Ruth Orkins Stärken als Arrangeurin von Straßenszenen, kleine Erzählungen, die in einzelnen Aufnahme zusammenfinden, sich als Serie erzählen. Weiter hinten im Band sammeln sich Porträts von Lauren Bacall, Marlon Brando, Montgomery Clift, entzückende Aufnahmen des sehr bildbewussten Leonard Bernstein – Pressebilder, Auftragsarbeiten, Besuche an Drehorten, der Carnegie Hall, Belege dafür, dass sie die Genres der Magazinfotografie beherrschte. Im selben Jahr hatte Ruth Orkin den ersten Titel eines Magazins produziert, der mit einer Kleinbildkamera aufgenommen wurde, das Bild einer Frau an einem Marktstand, leicht obersichtig, kräftige Farben. Nie zuvor verkaufte das Ladies Home Journal die gesamte Ausgabe so schnell. Der Bildredakteur aber notierte mit leicht paternalistischer Geste, dass er Orkin noch als Laufbotin bei MGM kenne.

Etliche Aufnahmen im Band, die nicht der schlichten Grammatik von Presseporträts entsprechen, nehmen einen spielerischen Charakter an, daneben gibt es Straßenbeobachtungen, kleine Intimitäten, Brüder nehmen sich in Schutz, Kinder besuchen den Zirkus, tragen Kostüme, als wollten sie einspringen; Familien warten an Straßenecken, vor Ampeln, nicht selten schauen sie geradeaus in die Linse. Vermutlich spricht es für Orkins Feinsinn, dass ihre eindrücklichsten Aufnahmen entstanden, wenn sie sich Raum für Serien nahm, mit wenigen Mitteln ambivalente Erzählungen auf der Straße verdichtete, die eher spielerisch als drastisch-realistische Abbilder von Spannungen zwischen Geschlechtern waren, oder gesellschaftlicher Normen.

Der Photo-Spirit-Band zeigt, dass Orkin eher ästhetische Erzählungen suchte als soziale Themen, immer wieder verlorene Tourist*innen, statueske Menschen an Bahnhöfen, auf ihrem Gepäck, Romanzen. Ganz selten finden sich Spuren von Rassentrennung, der Hippie-Bewegung, eine Aufnahme zeigt protestierende Frauen, die Plakate gegen schlechte Bezahlung und den Rassismus des Südens in der Hand tragen. Oft rückte Ruth Orkin Gesichter ins Bild, Hoffnungen, Skepsis. Die lebendige Wirkung der Aufnahmen zeigt sich, wenn man morgens zufällig den Band ins Café mitnimmt.

Info

Ruth Orkin. A Photo Spirit Hrsg. von Nadine Barth, Mary Engel, Texte von Kristen Gresh, Mary Engel, Ruth Orkin Hatje Cantz 2021, 240 S., 38 €

Ausstellung unter anderen ab September in F3 – Freiraum für Fotografie, Berlin

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