Dieser Streik ist doch provoziert

Im Gespräch Die Präsidentin den Deutschen Pflegerats, Marie-Luise Müller, über den kommunalen Ärztestreik, die marode ärztliche Organisation und die Machtansprüche des Marburger Bundes

FREITAG: Sie haben hinsichtlich der Streiks an den kommunalen Krankenhäusern von "Maßlosigkeit und purer Erpressung" des Marburger Bundes und seines Vorsitzenden Montgomery gesprochen. Sind Sie tatsächlich der Meinung, dass die angestellten Ärzte keinen Anlass zum Streik haben?
MARIE-LUISE MÜLLER: Ich bin der Ansicht, dass die Forderungen für den Streik an kommunalen Krankenhäusern nur aus machtpolitischen Gründen eingesetzt wird, um den Marburger Bund als Tarifpartner zu etablieren. Dieser Streik dient wie viele andere Reaktionen aus den Ärzteorganisationen der Stabilisierung der Machtverhältnisse und Aufgabenverteilung im gesamten Gesundheitswesen. Die Situation in den kommunalen Krankenhäusern ist wesentlich anders als an den Unikliniken. Dort gibt es bereits den Tarifabschluss des öffentlichen Dienstes, der eine Arbeitszeitregelung von acht Stunden und 16-stündigen Bereitschaftsdiensten vorsieht. Hätte der Marburger Bund den Abschluss damals akzeptiert, hätten die Ärzte schon jetzt eine geregelte Arbeitszeit. Das Problem an den Krankenhäusern liegt vielmehr in der ärztlichen Organisation, die schlechten Arbeitsbedingungen der Ärzte sind hausgemacht, und das bleibt in der Diskussion unterbelichtet.

Aber offenbar sind die Bedingungen doch so, dass die Ärzte dort ebenfalls streikbereit sind.
Natürlich gibt es auch in den allgemeinen Krankenhäusern Stress, aber nicht nur für die Ärzte, sondern insbesondere für die Pflegekräfte, das ist normal. Nur aus dieser machtpolitischen Perspektive heraus ist dieser Streik erklärbar. Die angeführten spezifischen Forderungen ließen sich durch veränderte Abläufe und Aufgabenneuverteilung weitgehend entkräften. Aber dieser Streik ist doch provoziert!

Sie sagen, der Streik würde auf dem Rücken der Patienten ausgetragen. Das bedeutet in letzter Konsequenz, dass das Krankenhauspersonal generell nicht streiken dürfte.
Natürlich ist die Krankenversorgung in allen Bereichen ein sensibler Bereich und stellt gerade an Streikaktionen besondere Anforderungen. Selbstverständlich dürfen auch Ärzte und Pflegekräfte streiken, sie müssen dies jedoch so tun, dass Patienten nicht zu Schaden kommen. Ein Schaden ist beispielsweise eine unverhältnismäßig lange Wartezeit auf Eingriffe oder eine verzögerte Diagnostik. Auch Ängste von Patienten sind ein Schaden, nicht erst der Todesfall in Göttingen. Herr Montgomery leistet dem Gesundheitssystem, das sage ich ganz deutlich, einen Bärendienst. Wenn er sich weiterhin durchsetzt, wird das Kliniksterben noch rasanter vorangehen und die wohnortnahe Versorgung nicht mehr garantiert werden können. Dies ist ein nachhaltiger Schaden für alle Versicherten insbesondere für unsere älteren Mitbürger. Darüber hinaus müssen die höheren Kosten im ärztlichen Dienst kompensiert werden, entweder zu Lasten des Pflegebereichs oder zu Lasten der Beitragssätze zur Krankenversicherung. Und warum soll ich mehr Beiträge bezahlen für ein marodes Organisationssystem im ärztlichen Dienst? Schon deshalb müsste die Politik hier ein Zeichen setzen.

Das Ausscheren des Marburger Bundes aus der Tarifgemeinschaft mit Verdi muss auch als Ausdruck der Entsolidarisierung im Krankenhaus gewertet werden. Wie erklären Sie sich das?
Die Zusammenarbeit zwischen Ärzteschaft und Pflege ist wichtige Voraussetzung für gute und sichere Versorgungsqualität der Patienten. Bisher hat die Zusammenarbeit trotz schwieriger Rahmenbedingungen funktioniert. Durch die Streiks wird diese allerdings stark belastet durch Überstunden, Urlaubssperren und den Kommunikationsausgleich bei den Patienten, vor allem dann, wenn der Eindruck entstehen muss, dass ein Kooperationspartner sich zu Lasten des anderen Vorteile erkämpft. Zudem hat sich die Pflege in den letzten Jahrzehnten professionalisiert. Das Pflegepersonal ist nicht mehr nur Befehlsempfänger und Diener, sondern setzt sich reflektiert mit dem auseinander, was Patienten berufsgruppenübergreifend benötigen. Das wird von vielen Ärzten offenbar als Konkurrenz erlebt und nicht akzeptiert. Mit dem Streik manifestieren die Ärzte auch die scheinbar unverrückbare Machthierarchie an den Kliniken und ihr Definitionsrecht, was gute Medizin ist. Wir wiederum haben eine möglichst patientenorientierte Versorgung im Blick. Wir bemühen uns deshalb darum, die Professionalisierung der Pflege voranzutreiben und an einen internationalen Standard anzuschließen. In einem solchen Kontext sind Ärzte Dienstleister unter anderen medizinischen Dienstleistern.

Sie haben angedeutet, der Streik würde vermeidbar durch ein neues Personalkonzept der Kliniken.
Ja, durch die Neuordnung der Aufgaben könnte das Pflegepersonal durchschnittlich 30 Prozent der ärztlichen Aufgaben übernehmen und die Ärzteschaft dadurch entlasten. Ich denke an sämtliche Blutabnahmen, an Insulintherapien bei eingestellten Diabetespatienten und sämtliche medizinisch festgelegten Infusionstherapien, aber auch an die Organisation der Krankenhausaufnahme und -entlassung, das Beatmungsregime, die Patientenerstversorgung in den Notaufnahmen und ähnliches.

Wenn Ärzte Verantwortung delegieren, müssten auch finanzielle Mittel auf die Pflege umverteilt werden. Das hören die Ärztevertreter nicht so gerne.
Die gedeckelten Klinikbudgets sind nach den Leistungsanteilen aufzuteilen und nicht nach dem Besitzstand. Unter diesen Bedingungen kommt es naturgemäß zu anderen Verteilungen. Orientierung muss hier eine Organisation sein, die ökonomische, qualitative und ergebnisorientierte Kriterien berücksichtigt.

Der Tarifabschluss an den Unikliniken hat im Osten viel Unmut erregt. Die Furcht grassiert, dass noch mehr Ärzte abwandern und das Versorgungsgefälle West-Ost noch gravierender wird. Gibt es von Ihrer Seite Ideen, wie die drohende Versorgungsengpässe zu vermeiden wäre?
Es gibt zum Beispiel das Modell der "Nurse Practitioner", also Pflegeexperten, die im niedergelassenen Bereich in Kooperation mit den Ärzten arbeiten. Dies hat sich gerade in strukturschwachen Regionen anderer Länder, zum Beispiel Finnland, ausgezeichnet bewährt. Sie könnten die gesamte Pflege, aber auch die Schmerztherapie und Wundversorgung und den Ernährungs- und Beratungsdienst übernehmen. Denkbar ist dabei auch die Verbesserung der Kommunikation durch Telemedizin und weitere IT-Lösungen, durch die Patienten mit entfernten Praxen verbunden werden könnten.

Von außen hat man den Eindruck, dass die Situation im Gesundheitssystem auch darauf zurückzuführen ist, dass es zunehmend nach industriellen Vorgaben rationalisiert wird. Aber ist das überhaupt sinnvoll?
Ich bin durchaus der Meinung, dass die reine budgetausgerichtete Ökonomisierung dem Gesundheitswesen langfristig schadet. Umso schädlicher ist der Ärzte-Streik, der diesem Prozess Vorschub leistet. Wir haben schon genug damit zu tun, die Politik auszubremsen, wenn sie die Krankenhäuser in bloße ökonomische Einheiten überführen will.

Montgomery bezeichnet Ihre Äußerungen als "hysterisch", weil Sie Patientenängste schüren.
Wir haben uns in dem nun drei Monate dauernden Streik nur sehr zurückhaltend geäußert, ganz bewusst, weil wir Polarisierung vermeiden und keine Patienten verunsichern wollten. Nur jetzt ist das Fass übergelaufen, es besteht kein ehrlicher Grund, die Basisversorgung der kommunalen Krankenhäuser zu bestreiken, wo normalerweise vernünftige Verhältnisse bestehen. Nachdem die Patienten so oder so die Zeche bezahlen werden müssen, sollten sie jedoch frühzeitig Kenntnis erhalten über die wirklichen Hintergründe.

Das Gespräch führte Ulrike Baureithel


Tarifvertrag der Ärzte

Der Tarifvertrag zwischen Marburger Bund und der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) wurde am 16. Juni geschlossen. Er gilt für etwa 22.000 Ärztinnen und Ärzte an Unikliniken (die Reichweite für Landeskrankenhäuser ist noch unklar) und sieht vor:

- Regelmäßige Wochenarbeitszeit 42 Stunden

- 12-Stunden-Schichten möglich, aber nicht mehr als vier Schichten in Folge; 24-Stunden-Schichten bedingt möglich, maximal 58 Stunden wöchentlich.

- Berufsanfänger erhalten 15 bis 17 Prozent mehr Gehalt; Oberärzte 20 Prozent.

- Das gestrichene Weihnachts- und Urlaubsgeld wird wieder eingeführt.

- Bereitschaftsdienste werden mit 60 bis 95 Prozent des individuellen Stundenentgelts vergütet. 25 Prozent Zuschlag für Bereitschaftsdienste an Feiertagen, nicht aber für Nachtdienste.

- Drei bezahlte Fortbildungstage pro Jahr.

Der Vertrag gilt ab 1. Juli 2006. Die Bezüge in den ostdeutschen Bundesländern werden nicht angepasst. Gleiche Gehälter soll es erst ab 2010 geben.


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