„Dieses Spiel ist saugefährlich“

Mehrheit Der Sozialpsychologe Harald Welzer warnt davor, die Themen der Radikalen und Populisten zu kopieren
Ausgabe 23/2017
Vorurteile und Begriffe der radikalen Ränder in die Mitte der Gesellschaft tragen
Vorurteile und Begriffe der radikalen Ränder in die Mitte der Gesellschaft tragen

Foto: Lukas Schulze/Getty Images

Harald Welzer hat sich mit Soldaten befasst und mit Nazis. Richtig in Fahrt kommt er, wenn Horst Seehofer über Flüchtlinge redet. Der tue Dinge, die man schlicht und ergreifend nicht tut.

der Freitag: Herr Welzer, haben Sie lange nachgedacht, ob Sie Seehofer in Ihrem Buch „Wir sind die Mehrheit“ so viel Raum geben sollen?

Harald Welzer: Da mich die politischen Interventionen von Horst Seehofer und seiner Partei schon seit geraumer Zeit beschäftigen, habe ich darüber nicht lange nachgedacht, nein.

Sie schreiben Sätze wie: „Seehofer gehört zu den Totengräbern der Demokratie.“

Dem Mann fehlt jeder Anstand, ja sogar das ganz normale moralische Grundgerüst.

Kann man die offene Gesellschaft verteidigen, indem man diejenigen, die man als Gefahr betrachtet, derart attackiert?

Ich beschäftige mich schon lange damit, wie Gesellschaften ins Rutschen geraten. Die historische Erkenntnis ist, dass die Radikalen dabei nicht das große Problem sind, sondern diejenigen, die die Themen und Begriffe der radikalen Ränder in die Mitte der Gesellschaft tragen. Und genau das hat die CSU in geradezu obszönem Ausmaß getan – immer und immer wieder. Ohne dass dafür irgendein Grund vorgelegen hätte. Gegen diese Form der populistischen Instrumentalisierung von Inhalten muss man sich als Demokrat wehren.

Zur Person

Harald Welzer, 58, ist der Paradiesvogel der Sozialpsychologie. Er war Professor für Memory Research (Essen), amerikanische Mythen und Riten (Atlanta) und Design der Transformation (Norbert-Elias-Zentrum, Flensburg)

Foto: Gerhard Leber/Imago

Sähen Sie die Demokratie in Gefahr, wenn die AfD in den Bundestag einzöge?

Das würde mir keine schlaflosen Nächte bereiten. Unsere Demokratie hielte das aus. Ein Gewinn sind sie aber auch nicht. Ich halte die AfD für eine gefährliche Partei, die politisch bekämpft werden muss.

Wie genau?

Die Themen, die sie setzen, sind marginal. Daher mein Appell an die etablierten Parteien: Nehmt den Radikalen nicht ständig die Themen weg, sondern setzt endlich mal wieder eigene! Wer die Sprüche der AfD übernimmt, begeht einen Riesenfehler.

Sie halten einen politischen Diskurs mit der AfD für falsch?

In der Tat. Da sind wir wieder beim Seehofer-Effekt. Offensichtlich glauben die Parteien nicht an ihre Gestaltungskraft, sie operieren umfrageorientiert und aktualistisch, ja geradezu ängstlich. „Aha, daher weht der Wind, tja, dann machen wir halt das Gleiche wie die AfD.“ Das ist verheerend! Sie treffen Entscheidungen, die auf einer vollkommen falschen Analyse fußen.

Je radikaler Politiker formulieren, desto schlechter fallen deren Wahlergebnisse aus – richtig oder falsch?

Da ist was dran, ja. Die Mehrheit der Bürger stößt das ab. Schauen Sie nach Österreich: Den Leuten ist das verbale Aufrüsten im Wahlkampf irgendwann total auf die Nerven gegangen, was sicherlich auch ein Grund dafür ist, weshalb Norbert Hofer bei der Bundespräsidentenwahl verlor. Eine viel größere Rolle spielt bei uns allerdings der Trump-Effekt.

Inwiefern?

Da hat die Verführung des rechten Populismus gewissermaßen ihre Verkörperung gefunden. Diejenigen, die dachten, man müsse es den Etablierten mal so richtig zeigen, sehen in den USA, was sie angerichtet haben; was passiert, wenn so ein Neurechter an den Hebeln sitzt. Bei uns im Land hat Trumps Dilettantismus zu einem Umschwung in der politischen Alltagskultur geführt. Ob Parteieintritte, „Pulse of Europe“ oder diverse Initiativen – da tut sich zurzeit eine Menge.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz setzt auf „soziale Gerechtigkeit“. Konkurrenten nennen das „linken Populismus“.

Wir wissen nicht, ob das Strohfeuer sind. Wir wissen auch nicht, wie Herr Schulz seinen neuen Lieblingsbegriff operationalisieren würde.

Sie haben Zweifel.

Es ist doch kein Zufall, dass die sich vor dem erwartbaren Erfolg gegenseitig betrunken machenden Sozialdemokraten zuletzt bitter enttäuscht wurden. Die Euphorie der Mitglieder spiegelt sich nicht in den Wahlen wider.

Woran liegt das?

Die Wähler vergessen nicht so schnell. Und sie sind skeptisch, wenn eine Partei, die seit Jahren mitregiert, sich von einem Tag auf den anderen einen frischen Anstrich verpasst. Insgesamt können wir den Sozis aber dankbar sein, dass sie den Schulz aus dem Zylinder gezogen haben. Herr Welzer, im Bundestag sitzen 64 Abgeordnete der Linkspartei. Wäre der Einzug einer rechtspopulistischen Partei nicht einfach die logische Folge?

Man sollte in einer Demokratie niemals mit dem Feuer spielen. Dieses Spiel ist nämlich saugefährlich. Das Referendum der Türkei zeigt uns, wie schnell etwas kippen kann, das man zuvor für selbstverständlich hielt. Diejenigen, die über solch schwachsinnige Vorhaben abstimmen lassen, fühlen sich den demokratischen Gepflogenheiten nämlich nicht unbedingt verpflichtet, um es vorsichtig zu formulieren.

Und die Grünen?

Die besetzen schon lange keine großen Themen mehr, leider. Aber das ist nicht mein Problem, das müssen die Herrschaften mit Psychotherapeuten besprechen.

Wäre für die Partei ein kompletter Neustart nötig?

Das wäre eine Chance gewesen, ja. Durch die unglückliche Wahl des Spitzenduos haben die Grünen sich dieser wunderbaren Chance aber selbst beraubt.

Was haben Sie gegen das Duo Göring-Eckardt/Özdemir?

Es steht weder für Modernisierungsinhalte, noch ist es attraktiv für junge Wähler. Man hat in Kiel gesehen, was möglich ist, wenn man es anders angeht. Robert Habeck steht für die Modernisierung der Grünen. Das kommt im Land gut an. Leider wurde er in der Vergangenheit immer wieder gebremst, meist von den eigenen Leuten.

In den Umfragen liegen die Grünen teilweise nur bei sechs Prozent. Geht da noch was?

Sorry, aber bei der Bundestagswahl werden die Grünen total ablosen. Derart konturlos, wie sie sich seit Jahren präsentieren, sehe ich kaum Chancen. Ich wüsste nicht, wie das Führungsduo jenes Vertrauen zurückgewinnen könnte, das in den vergangenen Jahren verloren gegangen ist. Die Situation ist vergleichbar mit jener der FDP vor ein paar Jahren.

„Weil wir auch die parlamentarische Vertretung der Bienen sind“, twitterte Cem Özdemir selbstironisch.

Bleibt die Frage: Hilft das den Bienen?

Özdemir wirbt zum Beispiel dafür, den Winterschlaf der Elektroautos zu beenden.

Wer das Elektroauto für ein zeitgemäßes Mobilitätskonzept hält, schläft schon etwas länger. Es ist ja nur das Methadon der fossilen Automobilität. Total von gestern. Es ist mehr als offensichtlich: Deutschland braucht eine neue Partei, die wichtige Akzente setzt. Eine Partei, die die wahren Probleme des 21. Jahrhunderts zu ihren Themen macht – die sich intensiv befasst mit: sozialer Ökologie, Klimapolitik, internationaler Gerechtigkeit, weltweiter Migration und Reichtumsverteilung.

Reizt es Sie nicht, das, was Sie an Parteien kritisieren, selbst besser zu machen?

Ich habe nichts gegen Leute, die sich in Parteien engagieren. Im Gegenteil: Ich bewundere viele Berufspolitiker. Der Aufwand, die Angriffe, dieser ständige Kampf um Mehrheiten, puh! Das ist ein harter Job, der eindeutig unterbewertet ist. Ich bin wirklich weit entfernt von einem allgemeinen Politiker-Bashing. Wenn ich bashe, dann spezifisch.

Sie werden also Ihre Kreuze im September bei einer Partei machen, die zurzeit im Bundestag vertreten ist?

Ganz sicher. Ich weiß zwar noch nicht, bei welcher, aber bis dahin habe ich noch ein bisschen Zeit.

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