Diesmal nicht!

Wende 89 Die Wege in die Opposition waren 1989 vielfältig und manch einer wurde aus reinem Zufall zum prominenten Sprecher. Das "Freitag"-Diskussionsforum in Neubrandenburg

„Ob die uns anerkannt hätten oder nicht, die hätten uns doch sowieso gar nicht mehr stoppen können“, sagt Gerhard Stoll. Gerade hat Freitag-Chefredakteur Philip Grassmann aus einem Brief vorgelesen, indem Ingrid Schulz sich bei Erich Honecker darüber beschwert hatte, dass dem Neuen Forum die offizielle Anerkennung verweigert wurde. Ingrid Schulz organisierte 1989 Friedensgebete in Neubrandenburg, Gerhard Stoll war Aktivist im Neuen Forum.

Es ist der vierte Termin der Freitag-Gesprächsreihe „Wende ’89“. Im Stadtarchiv Neubrandenburgs sind nur noch wenige Stühle unbesetzt und die gekommenen Gäste wollen nicht nur zuhören – sie wollen diskutieren. Am Ende des Abends haben fast alle Anwesenden ihre ganz persönliche Geschichte über die Zeit der Friedlichen Revolution erzählt und so gezeigt, wie unterschiedlich die Vorstellungen der DDR-Bevölkerung waren, als der SED-Staat erodierte.

Schon die beiden Podiumsgäste, Ingrid Schulz und Gerhard Stoll, finden immer wieder Punkte, an denen sie sich streiten können. Ihr Weg in die Opposition war dann auch sehr unterschiedlich. Gerhard Stoll, ein langjähriges SED-Mitglied, verlor 1988 den Glauben an das System, als sein Sohn aus politischen Gründen in Haft kam. „Da wusste ich, dass mit Reformen nicht zu rechnen ist“, sagt er. Ingrid Schulz hingegen wurde schon lange vorher gegängelt. Ihr Studium musste sie kurz vor dem Examen abbrechen. Sie holte die fehlenden Scheine dann an der Westberliner Freien Universität nach - zu einer Zeit, als die Mauer noch nicht stand.

Aus beiden wurden wichtige Aktivisten, die die Opposition in Neubrandenburg sichtbar machten. Ingrid Schulz half die Menschen in die Kirche zu holen und ihnen dort einen relativ geschützten Raum zum Meinungsaustausch zu bieten, Gerhard Stoll organisierte jeden Mittwoch Demonstrationen in der Stadt. Eigentlich hätten diese nach Leipziger Vorbild auch montags sein sollen, doch das ging nicht – montags probte schließlich der Kirchenchor.

Ein völlig zusammengewürfelter Haufen

Doch auch die Ziele, die Schulz und Stoll verfolgen, unterschieden sich schon 1989: Gerhard Stoll stand der deutschen Einheit zunächst sehr kritisch gegenüber, für Ingrid Schulz hingegen war sie das logische Ziel: „Hätte das mit der Einheit nicht geklappt, dann würden wir heute nicht hier sitzen“, sagt sie.

Für Stoll ist das keine Überraschung: Auch das Neue Forum sei ja ein völlig zusammen gewürftelter Haufen gewesen: „Zum Teil haben wir die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, wenn da manche zum Rednerpult gegangen sind“, sagt er. Zum bekanntesten Vertreter dieses „Haufens“ sei er übrigens ganz zufällig geworden: „Wir hatten auf einem unserer ersten Flugblätter unsere Adressen abdrucken wollen. Meine stand noch auf der Vorderseite, die anderen auf der Rückseite. Doch beim Druck ist etwas schief gelaufen und die Rückseite ist gar nicht mitgedruckt worden.“ Und so wandten sich von nun an alle, die etwas über das Neue Forum wissen wollten zunächst an Gerhard Stoll.

Ein glücklicher Zufall: Schließlich war das ehemalige SED-Mitglied Stoll gut vernetzt – auch in NVA-Kreise. Die Armee habe ihm dann auch signalisiert, dass sie nicht gegen die Demonstranten vorgehen würde, so Stoll. „Die haben mir gesagt: Wie sind die Armee des Volkes und nicht der Partei.“ Vor Panzern habe er so keine Angst gehabt. Auch nicht, als die Demonstrationen im kleinen Neubrandenburg auf mehrere zehntausend Teilnehmer anwuchsen.

Die SED versuchte schließlich gegenzusteuern. Sie organisierte Gegendemonstrationen, die jedoch von der Masse der friedlichen Demonstranten gegen das System geradezu erdrückt wurden. „Wir können auch anders“, drohte daraufhin der ehemalige SED-Bürgermeister Neubrandenburgs, doch die Demonstranten ließen sich davon nicht mehr beeindrucken: „Da hatte sich eine Eigendynamik entwickelt“, so Gerhard Stoll, „das wäre immer weiter gegangen.“ In der ganzen Stadt habe nur ein Gedanke vorgeherrscht: Diesmal nicht!

Sie haben Recht behalten.

Daten zum Herbst 1989 in Neubrandenburg

25.9. Der Friedenskreis bereitet das erste Friedensgebet vor
06.+07.10. Licht der Hoffnung auf Initiative des Friedenskreises (1. sichtbare Aktion in Neubrandenburg) Kerze im Fenster
11.10. 1. Friedensgebet in Neubrandenburg
17.10. Gesprächsabend zur Eisenacher Bundessynode in der Johanniskirche, Gerhard Stoll gibt Auskunft zum Neuen Forum
18.10. 2. Friedensgebet in Neubrandenburg
18.10. Schweigemarsch durch die Innenstadt zur katholischen Kirche (Marsch der Hoffnung), ca. 5.000 bis 6.000 Teilnehmer
18.10. Honecker bittet um Entbindung von seiner Funktion
24.10. Gründungsversammlung des Neuen Forum in Neubrandenburg
25.10. 3. Friedensgebet, anschließend wieder Marsch der Hoffnung, Marsch über Bahnhof, Ring, Treptower Tor, Große Wollweberstr., zum Karl-Marx-Platz, ca. 30 40.000 Teilnehmer
26.10. Gespräch auf Einladung von Cemnitzer im Kreml
31.10. Gesprächsabend des NF in der Kirche mit Stoll u. OB
01.11. Friedensgebet, anschl. Marsch durch die Innenstadt über Str. der DSF, Wartlautstr., Neutorstr. zum Karl-Marx-Platz, ca 30.000 Teilnehmer (OB Hahn verkauft die Suppenschüssel/Sat.-Anlage)
02.11. Handwerkerforum
08.11. Gerhard Stoll gibt in einem Artikel der FE Auskunft zum Neuen Forum!
08.11. Friedensgebet, anschl. Marsch zum Karl-Marx-Platz (wie 1.11.) ca. 20.000 Teilnehmer
09.11. Die Mauer wird geöffnet
10.11. Bezirksvorstandstagung der NDPD, NF gibt Auskunft
13.11. Friedensgebet, Marsch gegen das Vergessen
16.11. Gespräch im Rat der Stadt, s. Foto (OB Hahn mit Gefolge u. NF)
20.11. Friedensgebet
20.11. Dialogabend des NF in der voll besetzten Stadthalle
22.11. Runde Tische werden installiert
26.11. Aufruf Für unser Land wird veröffentlicht
27.11. Friedensgebet, anschl. Marsch bis vor das Stargarder Tor, ca. 700 Teilnehmer
28.11. Kohl verkündet sein 10-Punkte-Programm
01.12. Gesprächsrunde in der FE, eigene Seite für Bürgerbewegung wird abgelehnt (Verband der Journalisten hatte eingeladen)
03.12. Aktion Sühnezeichen des NF, Lichterkette quer durchs Land
03.12. Das Politbüro mit Krenz tritt zurück
04.12. Friedensgebet, anschl. Marsch zur FE und dort Demo zur Pressefreiheit, ca. 15.000 Teilnehmer
04.12. R. d. Stadt beschließt dem NF und der SDP Räume für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen
05.12. Beginn der Sicherung u. Später Auflösung der Bezirks- und Kreisdienststellen des MFS
05.12. Gesprächsrund in der Redaktion der FE, die unabhängige Beilage Plattform wird initiiert
07.12. Erst Runde Tische im Bez.Neubrandenburg
09.12. Gesprächsrunde mit Koch (Lt. MFS) im Kreml
12.12. Handwerkerforum auf Einladung des NF im Haus des Handwerks
18.12. Friedensgebet, Gauck in Neubrandenburg
21.12. Tagung des Bezirkstages
22.12. Die Abberufung von Stadtarchitektin Dr. Iris Grund zum 30.01.90 wird vom R. d. St. bekannt gegeben.
22.12. Das Brandenburger Tor wird geöffnet

1990
08.01.Friedensgebet u. Demo auf dem K.-M-Platz, ca. 5.000 Menschen
15.01. Friedensgebet u. Marsch durch die Innenstadt zum Karl-Marx-Platz ca. 7.000 Menschen
20.01. Bauern-Demo, ca. 10.000 Teilnehmer
27.+28.1. Das NF konstituiert sich auf einer Gründungskonferenz in Ost-Berlin
18.03. Volkskammerwahlen

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Geschrieben von

Julian Heißler

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