Diffuses Streben nach Totalität

Integrationskunst Was ist ein Gesamtkunstwerk? Und warum wollte der Expressionismus eins sein? Eine Ausstellung in Darmstadt versucht dies zu klären

Gesamtkunstwerk Expressionismus: Dahinter steckt kein hybrider Anspruch, alles zeigen zu wollen, sondern ein Konzept: Die Ausstellung widmet sich Gesamtkunstwerken in den zwei Jahrzehnten zwischen der Gründung der Künstlergruppe Die Brücke (1905) in Dresden und der programmatischen Absage an den utopischen Aufbruch durch die Ausstellung Neue Sachlichkeit (1925) in Mannheim. Der Ausstellungsort, die Darmstädter Mathildenhöhe, ist selbst ein Gesamtkunstwerk im Geiste des Jugendstils und der Lebensreform (1899). An diesem Ort fand 1920 die erste große Expressionisten-Ausstellung statt.

Der Begriff Gesamtkunstwerk stammt von Karl Friedrich Eusebius Trahndorff, der ihn 1827 prägte und von dem ihn Richard Wagner 1849 übernahm, als Programm für „Gesamtkunstwerke der Zukunft“, die „praktisch nur in der Genossenschaft aller Künstler“ realisiert werden könnten. Eine Definition von Gesamtkunstwerk gibt es nicht, aber seit über 150 Jahren steht das Wort für ein diffuses Streben nach Totalität. Die Ausstellung schafft keine Typologie des Gesamtkunstwerks, sondern bietet eine Anthologie der utopischen Ansätze.

Die Konjunktur des Gesamtkunstwerks zwischen 1905 und 1925 verdankt sich mehreren Faktoren: Erstens gab es unter den Künstlern Mehrfachbegabungen, darunter Arnold Schönberg, Oskar Kokoschka, Wassily Kandinsky, Egon Schiele. Sie alle arbeiteten spartenübergreifend. Zweitens schlossen sich viele Künstler zu Gruppen zusammen, um Kunst und Leben zu synchronisieren – oft mit politischem Anspruch wie beim Arbeitsrat für Kunst in Berlin, dem Walter Gropius, Erick Heckel u.a. angehörten. Drittens traten mit Film, Theater und Tanz Kunstsparten in den Vordergrund, die von Haus aus kollektiv arbeiteten. Zu diesen kunstimmanenten Voraussetzungen für Gesamtkunstwerke kam eine gemeinsame Erfahrung hinzu – jene der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, der Urkatastrophe mit dem Imperativ, auf das bürgerliche Zeitalter müsse nun ein neues folgen.

Die Ausstellung zeigt private Versuche, Kunst und Leben zusammenzubringen anhand einer Rekonstruktion von Ernst-Ludwig Kirchners Atelierswohnung in Berlin als Lebensraum des Künstlers oder des Kunstkunden wie bei der Ausstattung der Wohnung der Kunstkritikerin Rosa Schapire durch Karl Schmidt-Rottluff. Der Bildhauer Rudolf Belling schuf die Plastik Dreiklang, in deren Mitte auf einer Plattform – nach Schönbergs Vorstellungen – Musik gespielt werden sollte. Das Projekt wurde nicht realisiert. Nirgendwo wird das expressionistische Grundgefühl zwischen Bewegung, Aufbruch und Rausch indes eindringlicher inszeniert als im Tanz. Anita Berger wurde durch ihren Kokaintanz berühmt und durch den Nackttanz mit ihrem Ehemann berüchtigt. Das Kokain, das die Künstlerszene konsumierte, stammte von der Firma Merck in Darmstadt und galt damals noch als Schmerzmittel. Die Kuratoren Ralf Beil und Claudia Dillman präsentieren Szenen aus dem epochalen Horrorfilm Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) von Robert Wiene in einem Ambiente, das die Filmarchitektur nachbaut und zeigen Oskar Kokoschkas Bühnenbild-Aquarelle zu Paul Hindemiths Oper Mörder, Hoffnung der Frauen (1922). Insgesamt bietet die Ausstellung ein kulturhistorisches Panorama des Gesamtkunstwerkes im Expressionismus.

Gesamtkunstwerk Expressionismus Mathildenhöhe Darmstadt, bis 13. Februar, Katalog 45

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