Diffusion, ohohoh

Sachlich richtig Zwanghaftes Händewaschen beseitig zwangsläufig auch echten Schmutz: Literaturprofessor Erhard Schütz befasst sich diesmal mit Aphorismen und Verschwörungstheorien

Wie der Schatten dem Körper folgt, so folgt die Dummheit der Macht.“ – Dergleichen Sätze liest man gern. Bei Paul Valéry finden sie sich zuhauf. Sein Einfluß auf europäisches Dichten und Denken war einmal enorm. Bis weit über seinen Tod 1945 hinaus. Eine Auswahl aus seinen Cahiers ermöglicht, ihn zu prüfen, vielleicht auch wiederzuentdecken. Wie andere Körper-, so stellte er tagtäglich seine Denkübungen an. „Die Idee der Gymnastik ist entscheidend – Darin gründet meine Philosophie.“ Die Cahiers sind Instrument und Ergebnis dessen zugleich. Valéry sieht sich selbst beim Denken zu. So ver­sammelt auch diese – gelungene – Auswahl weniger Ergebnisse denn angestrengte Denkbeobachtungsexerzitien, die freilich auf Dauer in den Wiederholungen und bestenfalls Variationen die Monotonie alles Zwanghaften aufkommen lassen. Doch wie zwanghaftes Händewaschen zwangsläufig auch echten Schmutz beseitigt, ent­stehen hier geradezu automatisch bemerkenswerte Aperçus, denen nachzudenken lohnt. Etwa: „Die Angst ist eine Degeneration der Aufmerksamkeit.“

Auch diese Weisheit ist nicht zu verachten: „Der wahrscheinlichste Ort, einen Mann zu finden, der sich gerade noch auf seinen Beinen halten kann, ist nahe seinem Ausgangspunkt.“ Man kommt auf so etwas, wenn man Diffusion studiert. Also die zufälligen Wege wandernder Teilchen, Lebewesen oder Ideen studiert – und deren Zufälligkeiten in den Ergebnissen vorhersehen kann, wenn man Adolf Ficks Diffusionsgleichungen anzuwenden versteht. „Titanenwerk“ nennt Professor Gero Vogl, Spezialist für Bewegung fester Materie, diese Gleichungen. Er selbst widmet sich dem Menschenwerk der Popularisierung solch komplexer Verhältnisse wie denen der Diffusion. Längst sind sie in alle möglichen Wissenschaften diffundiert: Die Ausbreitung von Menschengruppen wie von Infektionen wird ebenso nach den Gesetzen der Diffusion bestimmt wie die Taumelwege des obigen Suffkopps oder von Ragweed oder die Ausbreitungswege der Miniermotte. Das Buch Vogls dazu hat etwas Unwiderstehliches, weil es von der Verführungskraft des selbst immer neu Staunenden zehrt.

Ob die Ausbreitung von Geheimlehren, Geisterglaube oder magischen Praktiken nach den Gesetzen der Diffusion zu erklären ist, mag nicht unwahrscheinlich sein. Sicher ist, dass sie zu unserer ach so aufgeklärten Welt gehören wie das Amen in der Kirche. Böser Blick und Börsenspekulationen liegen ja gar nicht so weit auseinander. Das Verborgene, dem das höhere Wissen der Esoterik sich hingebungsvoll widmet, verfolgt eins der stets so hilfreichen wie kompakten Büchlein von Beck Wissen. Darin werden Vampire wie Wassermannzeitalter, Spiritismus wie Schutzengel, tötende Blicke wie blickende Tote knapp und kenntnisreich dargestellt, gut strukturiert – und vor allem als Weltverhalten ebenso ernst genommen wie auf die Plätze verwiesen.

Verschwörungstheorien gedeihen auf Ground Zero noch immer wie kaum sonst wo. Doch für sie interessiert sich Bernd Greiner kaum. Die einfallsloseste aller Theorien, die US-Regierung selbst habe Nine-eleven angezettelt, wischt er mit dem Hinweis beiseite, dass Vize Cheney erkennbar um sein Leben fürchtete. Greiner interessiert anderes, nämlich, was auf die gestürzten Türme folgte: die selbstaufschaukelnde Paranoia der Bush-Bande, die gefährliche Abkoppelung der Sicherheitspolitik von jeglicher demokratischer Kontrolle und Legitimation; Folter und Lager, Präventionskrieg. Wer seriös informiert über die Veränderung der Welt seither nachdenken will, der wird hier bestens versorgt.

Ich grase meine Gehirnwiese abPaul Valéry Eichborn 2011, 348 S., 32 Wege des Zufalls Gero Vogl Spektrum 2011, 224 S., 17,95 strong>Okkultismus

Sabine Doering-Manteuffel9/11. Der Tag, die Angst, die FolgenBernd Greiner

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