Digital ist besser

Gastbeitrag Die Pandemie zwang die Universitäten zur Lehre in Online-Formaten. Das war lange überfällig, ein Zurück wäre ignoranter Luxus
Ausgabe 33/2020

Bildungsinstitutionen wie Hochschulen wird von jeher eine Aura von Weisheit unterstellt. Dabei ist für diese Bildungsorganisationen fundamental, dass sie mit einem Wissensgefälle arbeiten. Sie müssen unterstellen, dass ihre Lehrenden über Wissen verfügen, das andere, in diesem Fall Studierende, nicht vorweisen können. Auch wenn wir von jeher bestrebt sind, dieses Bildungsgefälle zu nivellieren, und vieles tun, um das Lernen auf Augenhöhe sicherzustellen: Am Ende ist es nach wie vor die jeweilige Bildungsinstitution, die die Abschlüsse erteilt. Damit wären, grob gesagt, die Machtverhältnisse geklärt und in Teilen die Stabilitätsverhältnisse erklärt.

Die durch Corona erzwungene rabiate Umstellung der Lehre an Hochschulen auf Online-Formate hat gezeigt, dass die Haltung der Nicht-Veränderungsbereitschaft zum ignoranten Luxus überkommener Zeit gehört. Zugleich forderte Corona aber nur das ein, was sich angesichts der disruptiven Veränderung durch die Digitalisierung bereits abgezeichnet hat.

Je länger die Corona-Krise andauert, desto offensichtlicher wird, dass ein Lehren wie früher nicht mehr möglich ist. In diesem Sommer erlebten die Schulen und Hochschulen unmittelbar den eigenen Wissensstrukturbruch. Die Lehrenden waren gezwungen, von heute auf morgen neue Kompetenzen aufzubauen: Didaktisch mussten sie komplett umstellen, und sie mussten sich mit digitaler Infrastruktur auseinandersetzen. Der Wissensvorsprung, der auf fachlicher Ebene gegenüber den meisten Studierenden bestand, schmolz dahin, da Lehrende sich nun offensichtlich mit Lernenden in einem Boot der Kompetenzaneignung befanden. In einigen Fällen – nicht alle sind wie die technisch und informatikorientierten Hochschulen gut aufgestellt – verdrehten sich sogar die Verhältnisse: Studierende waren plötzlich die (digitalen) KompetenzträgerInnen und eben nicht ihre Dozierenden. Erstere sind es als Digital Natives gewohnt, sich in Technik und deren Anwendungen zu bewegen, Letztere zum Teil eher weniger. Besonders deutlich wurde, dass Bildungsinstitutionen in der Vergangenheit zu wenig für die Fortbildung ihres Lehrpersonals getan haben.

Neue Didaktik gefragt

Dass die Umstellung der Lehre in weiten Teilen dennoch so gut geklappt hat, hat auch damit zu tun, dass eine relativ gut ausgeprägte individuelle digitale Grundkompetenz vorhanden war, als es darum ging, ad hoc digitale Lehr- und Lernformate und Anwendungen zu nutzen. Dies führt zu zwei Schlussfolgerungen: In Zukunft sollten Hochschulen und auch Schulen neue Lernkooperationen eingehen und besonderes Augenmerk auf den Transfer von im Alltag erworbenem Fachwissen legen. So könnten Studierende oder SchülerInnen auf dem Gebiet der Digitalisierung zu Lernscouts für die Belegschaft einer Bildungsinstitution werden, sofern die Expertise nicht schon im Haus vorhanden ist. Und ein gezielter Dialog mit den Lehrenden über deren anderweitig erworbene Kompetenzen könnte zu einer besonderen Wissenslandkarte führen. Es geht also um die Gründung neuer Wissensallianzen.

Auch das im Internet verankerte Wissen darf nicht länger nur ein ergänzender Teil der Präsenzlehre sein, sondern muss fundamentaler Bestandteil werden: Längst sind Studierende und SchülerInnen im Netz unterwegs und suchen Wissensquellen und Formate wie zum Beispiel Erklär-Videos auf, die sie dann, weil vorgegeben, in herkömmliche, meist schriftliche Formate übersetzen und integrieren. In Zukunft werden die Lehrenden vermehrt die Möglichkeiten des Internets nutzen und ihre Erkenntnisse dort einspielen. Konsequenterweise bedeutet das, eine neue, digital orientierte Didaktik zu entwickeln.

Da Handeln in einer Krise stets mit Unsicherheit zu tun hat, ist es nötig, auf Sicht zu fahren. Konkret: Die Corona-Krise hat Lehrende gezwungen, ihre Lehre kurzfristig umzustellen. Prüfungsformate mussten modifiziert, die Reihenfolge von theoretischer und praktischer Wissensvermittlung getauscht werden. Es brauchte die Fähigkeit, von Woche zu Woche zu planen. Corona trainiert diese Flexibilität. Wer immer noch darauf fixiert ist, dass die einstige Normalität zurückkehrt und dann weitergemacht werden kann wie bisher, der wird den Zug in die neue Zukunft verpassen.

In absehbarer Zeit werden Lehrende und ihre Hochschulen zunehmend unter Druck geraten: Aufgrund der erzwungenen Umstellung der Lehre auf Online-Formate wird die Diskussion aufkommen, warum bestimmte Inhalte nicht weiterhin ortsunabhängig vermittelt werden können, ob eine Präsenz in der Hochschule also verzichtbar ist. Dozierende alter Schule, die Lerninhalte und Wissen einfach nur „vorlesen“, werden nicht mehr erwarten können, dass man sich dafür zu ihnen in den Hörsaal setzt. Vielmehr werden sie überdenken müssen, welche Inhalte sie zeit- und ortsunabhängig online vermitteln und welche Zusatzangebote sie einführen müssen, um die Qualität der Lehre und somit den Lernerfolg zu steigern. Das Profil eines oder einer Lehrenden dürfte sich ausdifferenzieren: Ein Teil wird wie ein Coach das Wissen in der Diskussion herausfordern, hinterfragen und vertiefen.

Tendenz Fernlehre

Debatte „Digitale Fernlehre ist anstrengend und dauerhaft kaum zu wünschen“: Als Ralf Klausnitzer das Anfang Juni im Freitag schrieb, war noch nicht klar, was der Präsident der LMU München, Bernd Huber, für seine Uni formuliert, was aber in der Tendenz bundesweit gilt: „Auch wenn Präsenzveranstaltungen bis zu einer gewissen Größe und unter bestimmten Vorkehrungen vielleicht möglich sein werden und wir alle darauf hoffen, wieder mehr in den für Lehre und Forschung so wichtigen direkten persönlichen Austausch treten zu können, wird das Wintersemester 2020/2021 wohl wiederum in vielen Teilen digital ablaufen.“ Ein Schreiben im Konjunktiv – und mit klarer Tendenz. Ihr wollen wir mit dem vorliegenden Beitrag entgegenwirken, in der Hoffnung auf Widerspruch. Denn es ist der Streit, ob digital oder von Angesicht zu Angesicht, der uns klüger macht.

Dabei wird die Diskussion über Merkmale guter Lehre neu zu führen sein: Was bedeutet Qualität in der Präsenzlehre und was in den Online-Formaten? Wenn es stimmt, dass unsere Gesellschaft aufgrund der Digitalisierung zu einer vielkörnigen wird, die aufgrund individualisierter Datenlage die Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigen kann, wird der Grad der Individualisierung ein zentrales Gütekriterium sein. Lerninhalte eines Studiums werden der Lernstufe des Individuums angepasst und so vermittelt. Individuelle Therapien kennen wir bereits in der Medizin, warum also nicht auch individuelle Lehre in der Hochschule oder der Schule?

Mehr Kommunikation

Eine weitere wichtige Veränderung durch die Corona-Krise betrifft die Kommunikation. Die Umstellung auf Online-Formate in der Lehre führt nicht zu weniger, sondern zu mehr – und zwar in Chatverläufen dokumentierter – Kommunikation. Es werden mehr Fragen gestellt – und diese sind, dem Format geschuldet, klarer und präziser. Auch im Nachgang einer Lehrveranstaltung fällt es leichter, dem Dozierenden weitere Fragen per E-Mail und im Chat zu stellen. Der Dozierende muss häufiger als in den wenigen Präsenzsprechstunden, die bislang üblich waren, erreichbar sein. Lehre wird zu einer entgrenzten Veranstaltung jenseits des Stundenplans. Das Lernen wird noch mehr zeit- und ortsunabhängig erfolgen, was wiederum Optionen eröffnet, das Studium in das Alltagsleben zu integrieren. Hochschulen werden es sich in den nächsten Jahren und angesichts einer abnehmenden Studierendenzahl nicht mehr leisten können, ausschließlich Orte der Präsenzlehre zu sein, sondern müssen im wörtlichen Sinn viel Raum dafür bieten, individuell (und auch online) lernen zu können. Damit werden Hochschulen verstärkt auch für Berufstätige interessant.

Auf (infra)struktureller Ebene mussten die Hochschulen aufgrund von Corona in Bezug auf die Digitalisierung nun endlich nachziehen – unabhängig davon, ob die entsprechenden Budgets zur Verfügung standen. In den Finanzhaushalten der Hochschulen mussten von heute auf morgen (neue) Prioritäten gesetzt werden. Auch das war eine Lernchance: Entscheidungen unter Zeitdruck treffen – trotz knapper Mittel. Alles nun auf die Digitalisierung zu setzen, wird zu einer nachhaltigen Strukturveränderung führen. So wird eine durchdigitalisierte Infrastruktur digitalaffine Persönlichkeiten anziehen; Hochschulen werden für neue Gruppen von Arbeitnehmenden interessant. Durch den coronabedingten Digitalisierungsschub konnten neue, zukunftsorientierte Bündnisse mit der Politik, also den Bundesländern als Geldgeber, erfolgen. Eine solche Erfahrung könnte als kollektive Erfahrung die Chance beinhalten, den so dringend benötigten Reformkurs als gemeinschaftliche Aufgabe weiter voranzutreiben.

Mit der Digitalisierung stehen schließlich die Chancen gut, dass sich eine Welle der Internationalisierung anschließt. Ausländische Lehrende in die eigenen Lehrveranstaltungen einzubauen, Wissensaustausch oder gemeinsame Online-Seminare mit Studierenden von Partnerhochschulen – all das könnte aufgrund der weltweiten Fokussierung auf Online-Formate die Hürden für internationale Zusammenarbeiten senken. Die Hochschulen haben die Chance, Personalentwicklungsangebote aufzulegen, die sowohl die Digitalisierungs- als auch die Sprachkompetenz schulen.

Zu guter Letzt muss über das institutionelle Selbstverständnis von Wissenschaft gesprochen werden. Wissenschaft wird mehr denn je eine öffentliche Seite haben, die sie präsentieren muss. Durch den Digitalisierungsschub werden nicht nur Lehrelemente öffentlich zugänglich und geteilt, sondern auch Forschungsergebnisse. Wissenschaft wird in der Breite bezüglich ihrer Legitimation gar nicht anders können, als sich zugänglich zu organisieren.

Ob auf personeller oder struktureller Ebene, das alles, durch Corona ausgelöst, ist erst der Anfang – die Revolution steht erst noch an: die künstliche Intelligenz. Das hier ist bloß die Ouvertüre. Gelingt sie, ist langer Atem gefragt.

Prof. Dr. Frank E. P. Dievernich ist Präsident der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS)

Prof. Dr.-Ing. René Thiele ist Vizepräsident für Studium und Lehre an der Frankfurt UAS

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