Diktat des Vergessens

Wie antisemitisch war die DDR? (II) Es sollte um Erinnerungen, nicht um Erinnerungsmythen gehen

Nicht nur über zurückliegende Ereignisse lässt sich umso länger streiten, je mehr Meinungen und Deutungen dabei in Rede gebracht und je weniger Tatsachen in ein Gespräch eingeführt werden. Tatsachen sind ein hartnäckig Ding´ - eine Redewendung, die in früheren Zeiten häufiger zitiert wurde, als das heute der Fall ist. Tägliche Erfahrung nährt die Kenntnis, dass Tatsachen sich auch vergessen oder unvergessen ignorieren lassen. Matthias Krauß hat das unlängst in seinem äußerst lesenswerten Buch Völkermord statt Holocaust* über Juden und Judentum im Literaturunterricht der DDR bekräftigt. Er hat der Dunkelheit des Vergessens entrissen, dass da Gedichte, Roman- und Novellentexte oder Dramen gelesen wurden, die dem Thema galten. Ob derlei zu vergessen, nun physiologischen Vorgängen geschuldet ist oder aus politischem Kalkül erwächst, kann hier nicht behandelt werden.

Auf jeden Fall sollte die Debatte über antisemitische Ansichten in der DDR-Bevölkerung nicht nur aus historischem Interesse geführt, sondern die Geschichte dieser zerstörten Gesellschaft auch dahingehend befragt werden: Was ergibt sie daraus an Anstößen für den aktuellen Kampf gegen Antisemitismus? Welche Warnungen und Orientierungen sind das? Von derartiger Fragestellung ist die gegenwärtige Betrachtung meilenweit entfernt. Sie folgt einer anderen politischen Zielvorgabe. Sie soll den Nachweis des "Antisemitismus in der DDR", besser des "Antisemitismus als kommunistische Staatspolitik" erbringen. Dafür muss viel vergessen werden. Vorrangig Ergebnisse von Befragungen, die zu Beginn der neunziger Jahre in den alten wie den neuen Bundesländern gleichzeitig und abgestimmt stattfanden und bei denen ermittelt wurde, wie weit in der Bevölkerung antisemitische Vorurteile verbreitet waren. Sie haben auf einem Teilgebiet eine Schlussbilanz aufklärerischer Anstrengungen in DDR-Zeiten hergestellt. "Bemerkenswert war dabei", resümiert der Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, Wolfgang Benz, "der große Vorsprung der Westdeutschen (16 Prozent) vor den Bürgern der DDR (4 Prozent)."

Wer sich über diese Erhebungen im einzelnen informieren wollte, konnte das anhand einer Studie tun, die seit mehr als einem Jahrzehnt vorliegt. Sie stammt aus der Feder von Werner Bergmann und Rainer Erb, damals beide Mitarbeiter des erwähnten Berliner Zentrums (Wie antisemitisch sind die Deutschen? Meinungsumfragen 1945 - 1994. in: Wolfgang Benz (Hg.), Antisemitismus in Deutschland, München 1995). Die Fragen, die sich aus diesem Befund ergeben, liegen klar zutage: Wie wurde in der ostdeutschen Gesellschaft eine so hochgradige Marginalisierung antijüdischer Stereotype und Vorurteile erreicht? Welchen Anteil besaßen daran Film, Literatur, Schule, Universität, Massenmedien? Und woran lag es, dass trotz dieser Beiträge und materiellen Aufwendungen, trotz aller gesellschaftlichen Ächtung des Antisemitismus, vier Prozent "Bodensatz" blieben? War die Tilgung dieses Restes eine unlösbare Aufgabe? Was ist womöglich unterlassen oder falsch unternommen worden?

Aber wir sind leider noch mit der "Auswertung" der DDR-Kindergärten beschäftigt, bei der mancher schmerzlich seine Lieblingsvorstellung aufgeben muss, dass die kleinen Ostbürger dort stundenlang Staatsfahnen und stahlbehelmte NVA-Soldaten malen mussten. Zum schwierigeren Thema Antisemitismus kommen wir womöglich noch. Vorausgesetzt, die Demagogen sind ins Abseits gedrängt und das Feld der Erörterung ist für Fragen frei, die sinn- und nutzenstiftend gestellt werden können. Neuere Befragungen erweisen nämlich, dass in "Deutschland, einig Vaterland" die Ostdeutschen inzwischen aufgeholt haben. Das Gefälle ist nicht mehr so groß und die Aufgabe mithin gewachsen.

Professor Kurt Pätzold war bis 1992 Inhaber des Lehrstuhls für deutsche Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Schwerpunkte seiner Forschungen sind die Geschichte des Faschismus und des Antisemitismus.

(*) Matthias Krauß, Völkermord statt Holocaust, Anderbeck-Verlag 2007


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