Als Richard Linklaters Debütfilm Slackers 1992 in Deutschland in die Kinos kam, avancierte er in Studentenkreisen schnell zum Identifikationsfilm. Der Film machte zum Kult, was nach den Maßregeln der gerade zu Ende gegangenen achtziger Jahre eigentlich als Versagen gewertet werden musste: das stilvolle Rumhängen, das pointenversessene Palavern, das assoziative Passierenlassen. Slackers wurde zur nachträglichen Rechtfertigung eines Lebensstils, den man aus anderen Gründen ohnehin bereits pflegte. Man fühlte sich animiert, die Unübersichtlichkeit im eigenen Kopf zumindest für eine gewisse Zeit als Auszeichnung zu begreifen. Erinnert sich noch jemand an die Generation X? Man könnte geradezu wehmütig werden. Kaum jemand fuhr Golf, und alle lieb
iebten Slackers.Waking Life wiederholt diesen Gestus: ein Milieu, das in seiner Selbstwahrnehmung zwischen Impotenz und Elitenbewusstsein hin und her gerissen ist, wird zum Pop erklärt. Die Studenten und Akademiker sind zwar seit Slackers etwas in die Jahre gekommen, dafür inzwischen noch belesener. Wieder ist es aber dieses Milieu, das dem Blick von außen als merkwürdig weltentrückter Think-Tank erscheinen mag. Wirft man jedoch den Blick von dort nach draußen, so sind es plötzlich die Selbstverständlichkeiten des Alltags, die fraglich werden. Es scheint jedenfalls eine Grenze zwischen beiden Welten zu liegen, bei deren Überschreiten sich die Wahrnehmung ändert, und alte Gewissheiten neuen Fragen weichen. Waking Life erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, den man hier als Grenzgänger bezeichnen könnte. Während einer auf den Stadtplan einer amerikanischen Collegestadt beschränkten Odyssee erhält er von wechselnden Gesprächspartnern gleichsam Einführungskurse in die einflussreichsten philosophischen Denkbilder. Von Existenzphilosophie über Evolutionstheorie bis hin zu fernöstlich angehauchten Holismen und eher alltagsphilosophischen "Was wäre wenn"-Spekulationen ist so ziemlich alles dabei, was dem Belesenen beim Brainstorming einfallen würde. Im Vokabular des Alltags könnte man den namenlos bleibenden Protagonisten wohl als einen High School Absolventen beschreiben, der sich einen ersten Eindruck vom akademischen Milieu macht, in das er bald eintreten wird. Dass es mit derart nüchternen Zuschreibungen nicht getan ist, legt jedoch bereits die Ästhetik des Films nahe. Waking Life wurde zunächst mit "realen" Schauspielern abgedreht und dann zum Animationsfilm verfremdet, indem die Bilder in der digitalen Nachbearbeitung gleichsam übermalt wurden. Der visuelle Reiz des Films besteht darin, dass sich unter den animierten Bildern ihre "reale" Vergangenheit abzeichnet, wie die Konturen eines Körpers unter einem enganliegenden Kostüm, oder wie die Wirklichkeit hinter der Fiktion. Damit bewegen sich die Bilder ihrerseits auf einer Grenze. Der Dreh, mit dem die Thematik des Films in seiner Ästhetik abgebildet wird, bekommt weitere Bedeutungsebenen, je dringlicher der Protagonist sich fragt, ob das Erlebte real sei, oder ein Traum. Zwar wacht er in regelmäßigen Abständen auf, jedoch häufen sich schon bald wieder die Anzeichen, dass auch dieses Aufwachen nur geträumt war. Wie soll er zwischen Traum und Realität unterscheiden? Ausgerechnet auf diese Frage gibt keiner der belesenen Diskurse eine Antwort. Der spleenige Hinweis, jeder sei eine Figur im Traum eines anderen, hilft da wenig. Woran ließe sich denn auch eine profunde Lebensweisheit vom verkopferten Sophismus eines Träumers unterscheiden?Die Frage "Träume ich?" im Traum gestellt, hat etwa die gleiche Pointe wie eine wortreiche Diskussion über die Erkenntnis: "Wir quatschen bloß und tun nichts." Es bleibt eine Leere, in die die Realität eindringen müsste. Wenn sie es nicht tut, träumen oder quatschen wir weiter. Da verwundert es nicht, dass der Protagonist früher oder später in einem Kino sitzt, und auch dort keine Zuflucht vor der unablässigen Selbstreflektion bekommt. Im Film-im-Film unterhält man sich über - Film. Dass jedoch ein Film eine Aneinanderreihung "heiliger Momente" sei, wie die Diskutanten zu erkennen glauben, will dem Zuschauer von Waking Life schon nicht mehr plausibel erscheinen. Eher schon die darauf folgende Frage: "Aber wer hält das aus?" - und sei es auch nur im Traum oder im Kino.Waking Life ist zweifellos einer der textlastigsten Filme der Kinogeschichte, wobei erschwerend hinzukommt, dass die vorgetragenen Diskurse zum großen Teil tatsächlich in einer Textsprache gehalten sind, die sich erst beim Lesen wirklich erschließt und auch da nur bei entsprechender Zeit und Muße. "So redet doch keiner!", wäre indes kein Einwand, denn tatsächlich reden viele ja so. Sprache ist eben auch eine Frage des Milieus. Nun geht man aber ins Kino nicht wie in eine Bibliothek oder einen Hörsaal, und selbst diejenigen, denen die akademischen Formen vertraut sind, werden Mühe haben, sich auf Linklaters Ringvorlesung einzulassen. Während sich beim Zuschauen schon früh Sättigungsgefühle einstellen, erweist sich der Protagonist als ein enervierend vorbildlicher Zuhörer. Je dringlicher die Frage, wie der Zugetextete den Diskursbandwurm jemals verdauen will, desto unverständlicher die Tatsache, dass er kein ärgeres Problem zu haben scheint, als endlich aufzuwachen. Man wünscht sich, es möge wenigstens einmal - Traum hin oder her - ein Wittgenstein-Experte auftreten, der ihn auf den einfachen Gedanken brächte, dass ein Satz und sein Gegenteil nicht gleichzeitig wahr sein können. Denn naturgemäß, beziehungsweise gemäß der Logik des Sinnpluralismus, widersprechen sich die so selbstgenügsam vorgetragenen Positionen gegenseitig. Wenn auch jede einzelne der orakelhaft auftretenden Figuren mit sich im Reinen sein mag, so kann es doch der nicht sein, dem sie lediglich als Möglichkeiten erscheinen müssen, unter denen früher oder später zu entscheiden wäre. Was Not tut, ist eine Art Auslese, ein Redigieren, ein Editing - also Techniken, die sich im Leben, wie beim Filmemachen bewährt haben. Denn auch wenn der Träumer schließlich aufwacht, werden die Widersprüche bleiben. Es werden sogar seine eigenen sein, und es wird sich die Katerstimmung darüber einstellen, dass er mit ihnen leben muss. Der dicke Kopf in etwa, mit dem Studenten ins "wirkliche Leben" entlassen werden. Vielleicht sind die Diskurse der Intellektuellen ja so etwas wie die Träume und Albträume einer Gesellschaft. Ein Aufwachen wird es dabei allerdings nicht geben.
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