Die Vorstellung, dass Nationalsprachen homogen sind, ist eine Illusion. Die Sprachkritik der Moderne hat sie längst widerlegt. Der deutsch-jüdische Philosoph Fritz Mauthner prägte in seinem 1910/11 erschienenen „Wörterbuch der Philosophie“ die Metapher der „wandernden Worte“, um den gleichsam herrenlosen Charakter der Begriffe, Bilder und Wendungen zu beschreiben, die Angehörige einer Nation als ihren genuinen Sprachschatz auffassen. Nicht die einem Volk entspringende Schöpfung, sondern „Entlehnung und Nachahmung“ sei in Wahrheit das Bewegungsgesetz der Sprachgeschichte.
Heute, da die Hybridität der Sprachen im Zeichen des Multikulturalismus in den westlichen Staaten selbst zur Leitideologie geworden ist, erscheint Mauth
eint Mauthners Erkenntnis weniger provokant als zur Zeit des Kaiserreichs. Trotzdem verbindet sich das Ressentiment gegen die Globalisierung und die EU-Bürokratie regelmäßig mit Appellen, die Nationalsprachen zu schützen. Andernfalls wird die Gefahr einer „Einheitssprache“ – zumeist des Englischen – beschworen.Prima plurilingualDen Kulturkritikern, die im Zeitalter der Globalisierung den Ausdrucksreichtum der Nationalsprachen bedroht sehen, tritt nun der Kölner Historiker und Mediävist Karl-Heinz Göttert entgegen. Sein Buch Abschied von der Mutter Sprache. Deutsch in Zeiten der Globalisierung versucht eine auf Pluralität, Interkulturalität und Flexibilität beruhende „Sprachpolitik für europäische Bürger“ zu skizzieren. Da seine plurilinguale Utopie den kulturalistischen Homogenitätszwang aber nicht aufhebt und das Wahrheitsmoment der Diagnose von der Nivellierung sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten nicht erfasst, überzeugt sie nur halb.Sympathisch an Götterts Darstellung ist ihr Pragmatismus. Relativ knapp beschäftigt er sich mit der Allianz von Nationalchauvinismus und Sprachpurismus im Kaiserreich und zeigt deren Dialektik auf. Aufklärer des 18. Jahrhunderts wie Johann Christoph Adelung kritisierten schon damals wirksame Tendenzen, die „germanischen“ Sprachen gegenüber der „Fremdgierigkeit“ des Deutschen und seiner „kulturellen Selbstunterwerfung“ unter das Französische zu stärken, und prangerten die „unvernünftige Affenliebe zum Vaterlande“ an. Die Bemühungen zur Schaffung und Pflege eines einheitlichen Hochdeutschs, etwa durch Joachim Heinrich Campe, hatten gegenüber dem herrschenden Regionalismus ein fortschrittliches Moment, weil sie einem universalistischen Impuls folgten. Erst im 19. Jahrhundert mit der Entstehung des Deutschen Reichs erhielt dieser Sprachpurismus einen eindeutig reaktionären Zug; der völkische Partikularismus gewann gegenüber dem aufklärerischen Universalismus die Oberhand.Adieu, Mutter DeutschDa diese Problematik für Göttert mit der Entstehung der EU jedoch an Bedeutung verliert, widmet er den Hauptteil seiner Studie den praktischen Möglichkeiten, sprachpolitisch auf die Herausforderungen dieser neuen Konstellation zu reagieren, die die Nationalstaaten zwinge, im Namen eines europäischen Weltbürgertums „Abschied von der Mutter Sprache“ zu nehmen, also nicht nur organizistische Sprachursprungsvorstellungen, sondern auch die Fixierung auf die Herkunftssprache zugunsten einer flexiblen Vielsprachigkeit zu verabschieden.Vor diesem Hintergrund skizziert Göttert die Sprachpolitik der Goethe-Institute und des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, die Entstehung des Studiengangs Deutsch als Fremdsprache, kritisiert den Kampf der Bundesregierung für „Gleichberechtigung“ des Deutschen gegenüber dem „Sprachregiment der EU“ und beurteilt den Siegeszug des Englischen als Wissenschaftssprache recht positiv.In einem interessanten Kapitel verteidigt er die „Weltsprache Latein“ gegen ihre antiintellektuelle Toterklärung. Er plädiert für eine europäische „Politik der Mehrsprachigkeit“, die die Bindung der Bürger an ihre Herkunftssprache lockert, ohne sie vergessen zu machen, und polemisiert gegen die „Sprachökologie“ kultureller Artenschützer, die ein „Europa der Regionen“ propagieren und die Dialekte wieder zu ihrem Recht bringen wollen. Auch er spricht sich aber gegen eine „Abwertung der Regional- und Minderheitensprachen“ aus.Freilich setzt kulturelle Vielfalt die Homogenität der gleichberechtigten Kulturen voraus, kulturelle Pluralität ist also kein Ausweg aus dem Kulturalismus. Außerdem kommt Götterts Buch recht politikberaterisch daher und nimmt Sprache nur als Kommunikationsmedium der Bürger in den Blick. Ihre ästhetischen, rhetorischen, die Mitteilungsfunktion überschreitenden Aspekte blendet er aus. Gerade auf dieser Ebene ließe sich aber am ehesten zeigen, wie die „Internationalisierung“ der Sprache die Ausdrucksmöglichkeiten der jeweiligen Hochsprache einschränken kann, etwa durch Einwanderung eines aus dem Englischen bezogenen Technokratenjargons der „Optionen“, „Standards“, „Tools“ und „soft skills“ nicht nur in die Unternehmens-, sondern auch in die Alltagssprache. Welche Veränderungen sich in solchen Phänomenen artikulieren, müsste untersuchen, wer die sprachkritische Skepsis gegenüber der Globalisierung ernst nimmt. Da Göttert es nicht tut, gerät sein Abschiedsgruß an die Nationalsprachen allzu optimistisch.